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Bundesministerium
für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit

Bekanntmachung
einer Empfehlung der Strahlenschutzkommission
Abgeleitete Richtwerte für Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung
bei Ereignissen mit Freisetzungen von Radionukliden

Vom 8. Januar 2020

Nachfolgend wird die Empfehlung der Strahlenschutzkommission (SSK), verabschiedet in der 303. Sitzung der Kommission am 24./25. Oktober 2019, bekannt gegeben.

Bonn, den 8. Januar 2020

S II 2 – 17027/2

Bundesministerium
für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit

Im Auftrag
Engelhardt
Anlage

Abgeleitete Richtwerte für Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung
bei Ereignissen mit Freisetzungen von Radionukliden

Empfehlung der Strahlenschutzkommission
Verabschiedet in der 303. Sitzung der Strahlenschutzkommission
am 24./25. Oktober 2019

Vorwort

In der Richtlinie 2013/59/Euratom und im Strahlenschutzgesetz werden die Grundsätze und Schutzziele des radiologischen Notfallschutzes und daraus abgeleitete Anforderungen für die Planung und Durchführung von Schutz­maßnahmen bei Notfallereignissen festgelegt. Für Entscheidungen über zu treffende Schutzmaßnahmen und deren Optimierung nach erfolgter Freisetzung sind möglichst früh verfügbare Messungen zur Erfassung der radiologischen Lage erforderlich. Die Entscheidung über die Durchführung oder die Anpassung bereits vorab getroffener Schutzmaßnahmen erfolgt über den Vergleich von Messwerten mit abgeleiteten Richtwerten, international „Operational ­Intervention Levels (OILs)“.

Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) hat 2016 im Rahmen eines Beratungsauftrages die SSK gebeten, abgeleitete Richtwerte (OILs) für unterschiedliche Referenzszenarien zu entwickeln.

An der Erarbeitung der resultierenden Empfehlung haben als Mitglieder einer Arbeitsgruppe des Ausschusses „Notfallschutz“ mitgewirkt:

Herr Dipl.-Ing. Christian Grimm, Filderstadt (i. R.)
Herr Dipl.-Phys. Jürgen Kopp, Universitätsklinikum Augsburg
Herr Dr. Florentin Lange, Gesellschaft für Reaktorsicherheit, Köln (i. R.)
Herr Dr. Jürgen Müller, Ministerium für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume Schleswig-Holstein
Herr Dipl.-Ing. Stephan Prüßmann, Kerntechnischer Hilfsdienst GmbH, Eggenstein-Leopoldshafen
Herr Dipl.-Met. Wolfgang Raskob, Karlsruher Institut für Technologie, Eggenstein-Leopoldshafen
Herr Dipl.-Ing. Horst Schnadt, TÜV Rheinland Industrie Service GmbH, Köln (i. R.)
Herr Dr. Wolfgang Weiss, Bundesamt für Strahlenschutz, Neuherberg (i. R.)
Herr Dr. Florian Gering, Bundesamt für Strahlenschutz, Neuherberg
Dr. Florentin Lange Dipl.-Phys. Jürgen Kopp Prof. Dr. Joachim Breckow
Vorsitzender der Arbeits­gruppe
„Operational Intervention Levels (OILs)“
Vorsitzender des Ausschusses
„Notfallschutz“
Vorsitzender der
Strahlenschutzkommission

Inhaltsübersicht

Empfehlung

1 Hintergrund

2 Beratungsauftrag

3 Empfehlung und Vorbemerkungen

3.1 Vorbemerkungen

3.2 Empfehlungen

Wissenschaftliche Begründung

1 Einleitung

2 Grundlagen

2.1 Schutzstrategien

2.2 Anwendung von abgeleiteten Richtwerten bei den Referenzszenarien

2.3 Gebiete, Richtwerte der Dosis und abgeleitete Richtwerte

3 Festlegung von abgeleiteten Richtwerten (OILs) für Schutzmaßnahmen

3.1 Richtwerte der Dosis

3.2 Messgröße

3.3 Expositionspfade

3.4 Modellierung der Expositionspfade

3.5 Abgeleitete Richtwerte

3.6 Hinweise

4 Anwendung

4.1 Szenarienbedingte Unterschiede

4.2 Die Rolle von abgeleiteten Richtwerten im Rahmen der Schutzstrategie

4.3 Anpassung von abgeleiteten Richtwerten (OILs)

5 Abgeleitete Richtwerte für Schutzmaßnahmen

5.1 Die Schutzmaßnahmen „Aufforderung zum Aufenthalt in Gebäuden“, „Evakuierung“ und „Aufforderung zur Einnahme von Iodtabletten“

5.1.1 Aufforderung zum Aufenthalt in Gebäuden

5.1.2 Aufforderung zur Einnahme von Iodtabletten

5.1.3 Evakuierung

5.2 Die Schutzmaßnahme „Abgrenzung eines radiologischen Gefahrenbereiches“ bei sonstigen Ereignissen

5.3 Abgeleitete Richtwerte für Kontaminationskontrollen/Dekontamination beim Verlassen eines radiologischen Gefahrenbereiches bei sonstigen Ereignissen

5.3.1 Kontaminationskontrollen/Dekontamination von Gegenständen

5.3.2 Kontaminationskontrollen/Dekontamination von Personen

5.4 Abgeleitete Richtwerte für Kontaminationskontrollen von Personen und von Gegenständen, Fahrzeugen und Waren beim Übergang zwischen Gebieten.

5.4.1 Abgeleitete Richtwerte für Kontaminationskontrollen von Gegenständen und gegebenenfalls Dekontaminationsmaßnahmen

5.4.2 Abgeleitete Richtwerte für Kontaminationskontrollen/Dekontamination von Personen

5.5 Schutzmaßnahmen für landwirtschaftliche Produktion und Lebensmittel

5.5.1 Landwirtschaftliches Maßnahmenpaket

5.5.2 Höchstwerte der Aktivitätskonzentration in Lebens- und Futtermitteln

5.6 Überlegungen zur Anordnung der Schutzmaßnahme „Umsiedlung“

6 Praktische Anwendung von abgeleiteten Richtwerten für die Planung und Durchführung von Schutzmaßnahmen in Notfallsituationen

7 Literatur

8 Glossar

Anhang A Modellierung der Expositionspfade und dabei getroffene Annahmen und verwendete Parameter

A-1 Externe Strahlung durch auf Oberflächen abgelagerte Radionuklide

A-2 Inhalation lungengängiger radioaktiver Partikel nach Resuspension von kontaminierten Oberflächen

A-3 Unbeabsichtigte Ingestion von Radionukliden infolge Berührung kontaminierter Oberflächen

A-4 Ingestion von Radionukliden über die Nahrungsaufnahme

A-5 Bestimmung des abgeleiteten Richtwertes der ODL für die Maßnahme „Evakuierung“

A-6 Literatur

Empfehlung

1 Hintergrund

In der Richtlinie 2013/59/Euratom (Euratom 2014) und im Strahlenschutzgesetz (StrSchG 2017) werden die Grundsätze und Schutzziele des radiologischen Notfallschutzes und daraus abgeleitete Anforderungen für die Planung und Durchführung von Schutzmaßnahmen bei Notfallereignissen festgelegt. Dementsprechend sollen die zuständigen Behörden sicherstellen, dass Schutzstrategien für Notfallexpositionssituationen im Rahmen der Notfallvorsorge vorab entwickelt, gerechtfertigt und optimiert und im Ereignisfall zeitgerecht umgesetzt werden.

Für die in der Planung zu entwickelnde Schutzstrategie gilt, dass die verbleibende Dosis bei Exposition der Bevölkerung in Bezug auf die Zahl exponierter Personen und die Höhe der individuellen Dosen sowohl oberhalb als auch unterhalb des Referenzwertes für die verbleibende Dosis so niedrig gehalten wird, wie es unter Berücksichtigung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Faktoren vernünftigerweise erreichbar ist (gemäß einer Vorgehensweise nach dem „ALARA-Prinzip“, as low as reasonably achievable). An die zu entwickelnde Schutzstrategie wird die Forderung gestellt, dass sie optimiert wird. Dazu sollen angemessene Reaktionen auf eine Notfallexpositionssituation anhand postulierter Ereignisse und entsprechender Szenarien auf der Grundlage von Gefährdungsanalysen geplant werden mit dem Ziel, schwerwiegende deterministische Effekte zu vermeiden und die Wahrscheinlichkeit von stochastischen Effekten in der Bevölkerung zu verringern.

Für Entscheidungen über zu treffende Schutzmaßnahmen nach erfolgter Freisetzung sind möglichst früh verfügbare Messungen zur Erfassung der radiologischen Lage erforderlich. Die Entscheidung über die Durchführung oder die Anpassung bereits vorab getroffener Schutzmaßnahmen erfolgt über den Vergleich von Messwerten mit abgeleiteten Richtwerten, international „Operational Intervention Levels (OILs)“, als im Voraus festgelegte Auslösekriterien für ­Notfallreaktionen. Bei Überschreitung der hier vorgestellten abgeleiteten Richtwerte sind Schutzmaßnahmen aus ­radiologischer Sicht gerechtfertigt, dies führt aber nicht automatisch zur Auslösung von Maßnahmen, da bei der ­Entscheidung auch noch andere, nicht-radiologische Aspekte berücksichtigt werden müssen.

Im StrlSchG 2017 werden Referenzszenarien gefordert, für die abgeleitete Richtwerte für Schutzmaßnahmen auf der Basis von Strahlungsmessungen zu entwickeln sind. Bei Kernkraftwerksunfällen besteht in der Regel eine längere Vorwarnzeit als bei anderen Freisetzungsszenarien, und es ist von einer zeitlich vorausgehenden Alarmierung des Katastrophenschutzes und entsprechend veranlassten Schutzmaßnahmen für die möglicherweise betroffene Be­völkerung vor dem Freisetzungsbeginn auszugehen. Unter diesen Bedingungen erfolgen Schutzmaßnahmen über abgeleitete Richtwerte auf der Basis von Messungen zur entstandenen Kontaminationssituation in der Regel erst nach der Veranlassung von Schutzmaßnahmen auf Grundlage von Prognosen. Über abgeleitete Richtwerte können dann räumliche und zeitliche Anpassungen vorab getroffener Maßnahmenentscheidungen resultieren.

Bei den sonstigen Freisetzungsereignissen der Referenzszenarien besteht meistens keine nutzbare Vorwarnzeit, so dass bis auf prophylaktische Absperrungen im unmittelbaren Nahbereich weitere Schutzmaßnahmen frühzeitige Messergebnisse zur entstandenen Kontaminationssituation erfordern.

2 Beratungsauftrag

Im Juni 2016 beauftragte das Bundesumweltministerium die Strahlenschutzkommission vor dem Hintergrund der von der Richtlinie 2013/59/Euratom (inzwischen durch das Strahlenschutzgesetz (StrlSchG 2017) in nationales Recht umgesetzt) und darin gestellten Anforderungen an den Notfallschutz mit der Behandlung folgender Fragestellungen und der Erarbeitung entsprechender Empfehlungen:

Diskussion von Grundsätzen und Konzepten für die im Rahmen der Notfallplanung zu entwickelnden abgeleiteten Richtwerte bei im Szenarienkatalog (jetzt als Referenzszenarien bezeichnet) aufgeführten radiologischen Ereignissen, wobei auch die erforderliche Anpassung abgeleiteter Richtwerte an die zeitliche Entwicklung wie Dringlichkeitsphase, Übergangsphase und Nachereignisphase, die mit Änderungen bei den Referenzwerten und Dosisrichtwerten verbunden sein können, einbezogen werden sollte.
Vorschlag abgeleiteter Richtwerte (OILs) als Auslösekriterium für die in den Radiologischen Grundlagen aufgeführten Eingreifrichtwerte für frühe Maßnahmen.
Entwicklung radiologischer Kriterien und abgeleiteter Richtwerte zur (gegebenenfalls schrittweisen) Aufhebung von Maßnahmen in Notfall- und bestehenden Expositionssituationen.
Vorschlag abgeleiteter Richtwerte für Dekontaminationsmaßnahmen bei Einsätzen der Gefahrenabwehr, die sich auf den Schutz der Bevölkerung in beaufschlagten Gebieten und den Schutz des Einsatzpersonals beziehen sollten.

3 Empfehlung und Vorbemerkungen

3.1 Vorbemerkungen

Eingreifrichtwerte, im Folgenden als Richtwerte der Dosis bezeichnet, sind Zielgrößen für Dosiswerte, die aus radiologischer Sicht mit Hilfe von Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung und das Einsatzpersonal möglichst nicht überschritten werden sollen. Für die Entscheidungsfindung über konkrete Schutzmaßnahmen sind abgeleitete Richtwerte erforderlich. Letztere stellen über Expositionsmodelle eine Verbindung zwischen geeigneten Messgrößen zur Er­fassung einer entstandenen Kontaminationssituation und der dadurch während eines Bezugszeitraumes potenziell erhaltenen Dosis von Personen dar. Die Höhe des abgeleiteten Richtwertes ist dabei durch den jeweiligen Richtwert der Dosis bestimmt. Die Grundsätze und Verfahrensweise zur Festlegung von abgeleiteten Richtwerten werden in der Wissenschaftlichen Begründung ausführlich behandelt. Die für einzelne Schutzmaßnahmen empfohlenen Richtwerte für Messgrößen der entstandenen Kontamination und die dabei getroffenen Festlegungen sind in jeweiligen Tabellen dokumentiert. Dazu werden für die praktische Umsetzung auch Hinweise zur Anwendung der empfohlenen Richtwerte im Ereignisfall gegeben. Von der SSK werden abgeleitete Richtwerte für Maßnahmen nach Eintritt eines Freisetzungsereignisses, welches in den Referenzszenarien beschrieben ist, vorgeschlagen. Die Umsetzung der Maßnahmen bezieht sich auf Gebiete, in denen der jeweilige Strahlungsmesswert der Kontamination den abgeleiteten Richtwert überschreitet. Dabei gilt für alle Schutzmaßnahmen, dass sie unter den herrschenden Umständen gerechtfertigt und verhältnismäßig sein sollen.

In einer Notfallexpositionssituation und nach Übergang zu einer bestehenden Expositionssituation gilt jeweils ein übergeordneter Referenzwert für die verbleibende Dosis pro Jahr. Der Referenzwert für Notfallexpositionssituationen beträgt anfänglich 100 mSv effektive Dosis im ersten Jahr gemäß den Radiologischen Grundlagen (SSK 2014) und Strahlenschutzgesetz. Er kann aber im weiteren Verlauf einer Notfallsituation mit der Zielsetzung einer Optimierung herabgesetzt werden. Für bestehende Expositionssituationen muss ein Referenzwert von maximal 20  mSv verbleibende Dosis pro Jahr durch die zuständige Behörde festgesetzt werden, wobei die Zielsetzung besteht, diesen im Laufe der Zeit auf Werte in Richtung von 1 mSv a–1 effektive Dosis zu erniedrigen.

In der frühen Phase einer Bewältigung eines radiologischen Notfalls sind Anpassungen von abgeleiteten Richtwerten nicht zu erwarten. Diese kämen dann in Frage, wenn sich herausstellen sollte, dass sich wesentliche Abweichungen zwischen den zur Festlegung eines abgeleiteten Richtwertes getroffenen Annahmen, beispielsweise zur Nuklidzusammensetzung einer Freisetzung, und den beim Notfallereignis tatsächlich vorherrschenden Bedingungen ergeben ­sollten.

Für abgeleitete Richtwerte für Maßnahmen, die über längere Zeiträume wirksam sind, stellt sich jedoch die Frage einer Anpassung bei veränderten übergeordneten Referenzwerten oder auch aus weiteren Strahlenschutzgründen. Nach Auffassung der SSK besteht dann unverändert die Forderung der Radiologischen Grundlagen, „dass nicht nur die Schutzstrategie insgesamt, sondern auch jede einzelne Schutzmaßnahme gerechtfertigt sein soll, d. h. mit ihr soll mehr Nutzen als Schaden bewirkt werden“. Damit wird deutlich, dass eine spätere Herabsetzung des jeweiligen Referenzwertes für die verbleibende Dosis nicht automatisch mit einer Anpassung von abgeleiteten Richtwerten verbunden ist. Eine in Betracht gezogene Änderung müsste sehr sorgfältig erwogen und im Hinblick auf ihre Recht­fertigung und Verhältnismäßigkeit geprüft werden. In jedem Fall besteht die Optimierungspflicht gemäß § 92 Absatz 3 StrlSchG „Die Exposition der Bevölkerung und der Einsatzkräfte sowie die Kontamination der Umwelt sind bei Notfällen unter Beachtung des Standes der Wissenschaft und unter Berücksichtigung aller Umstände des jeweiligen Notfalls durch angemessene Maßnahmen auch unterhalb der Referenzwerte so gering wie möglich zu halten“.

Die in dieser Empfehlung entwickelten abgeleiteten Richtwerte für kurze Zeiträume nach Eintritt eines radiologischen Notfalls sind in Tabelle 1 in Übersichtsform zusammengestellt. Abgeleitete Richtwerte, die sich auf längere Zeiträume beziehen, sind in Tabelle 2 aufgeführt. Zusätzlich ist für die einzelnen Schutzmaßnahmen die Verfahrensweise zur Festlegung der jeweiligen abgeleiteten Richtwerte in Tabellen zusammengestellt.

Nicht enthalten in der Tabelle 1 mit abgeleiteten Richtwerten für kurze Zeiträume ist die Schutzmaßnahme „Aufforderung zur Einnahme von Iodtabletten“, die bei Kernkraftwerksunfällen zur Vermeidung hoher Schilddrüsendosen ­besondere Bedeutung hat. Durch die Schutzmaßnahme „Aufforderung zur Einnahme von Iodtabletten“ soll die Aufnahme von radioaktivem Iod in die Schilddrüse durch eine rechtzeitige Einnahme von stabilem Iod in hoher Dosierung verhindert oder stark vermindert werden. Am wirksamsten ist die Maßnahme, wenn das stabile Iod im Organismus vor der Aufnahme des radioaktiven Iods vorhanden ist (SSK 2017, Iodblockade.de). Für die rechtzeitige Umsetzung dieser Maßnahme sollen insbesondere im Nahbereich der Anlage die bei Kernkraftwerksunfällen verfügbare Vorwarnzeit bis zum Beginn einer größeren Freisetzung von radioaktiven Iodisotopen sowie Prognosen zum Freisetzungs­verlauf möglichst genutzt werden. Die Bestimmung eines abgeleiteten Richtwertes auf Basis von Messungen, z. B. der Ortsdosisleistung (ODL), nach erfolgter Kontamination durch eine vorbeigezogene Schadstoffwolke ist daher nicht sinnvoll, da zum notwendigen Einnahmezeitpunkt keine Messungen vorliegen können.

Abgeleitete Richtwerte für Schutzmaßnahmen stellen den Bezug von in einem Gebiet gemessenen Werten zum Richtwert der Dosis her. Eine Erfassung der entstandenen Kontaminationssituation erfolgt durch lokal erhobene Messungen. Dabei besteht die Anforderung, dass aus den Messwerten ein adäquater Mittelwert gebildet wird, der für ­Aufenthaltsorte und ‑zeiten der Bevölkerung oder für landwirtschaftlich genutzte Flächen möglichst repräsentativ ist. Damit soll vermieden werden, dass durch nur lokal wirksame Prozesse bei der Schadstoffausbreitung und ‑deposition und bei nachfolgenden Prozessen, z. B. durch lokal ablaufendes Niederschlagswasser, unvermeidbare Spitzenwerte der Kontamination ein unangemessenes Gewicht erhalten.

Die numerische Bestimmung der empfohlenen abgeleiteten Richtwerte für Schutzmaßnahmen bezieht sich auf die sog. repräsentative Person im Sinne von ICRP 101 (ICRP 2006). Eine repräsentative Person steht stellvertretend für eine Bevölkerungsgruppe mit vergleichbaren Eigenschaften hinsichtlich der Expositionsbedingungen, der erhaltenen Dosis und der damit verbundenen gesundheitlichen Risiken. Insbesondere sollen dadurch auch Personengruppen erfasst werden, die in Bezug auf erhaltene Dosen und ihre Strahlenempfindlichkeit nachteilige Bedingungen und Eigenschaften aufweisen, jedoch keinesfalls extreme. Die jeweils durch die repräsentative Person erfassten Personengruppen sind dabei im Hinblick auf ihre Strahlenexposition durch ihre physiologischen Eigenschaften und angenommenen Verhaltensweisen zu charakterisieren. In Notfall- und bestehenden Expositionssituationen sind neben Erwachsenen und Kindern auch Schwangere im Hinblick auf die höhere Strahlenempfindlichkeit während der vorgeburtlichen Entwicklung von Embryo und Fetus als „repräsentative Person“ zu betrachten (ICRP 2007, par. 280).

Mit der Zielsetzung, schnelle und fundierte Entscheidungen über Schutzmaßnahmen im Ereignisfall treffen zu können, werden vorab bei der Entwicklung von Schutzstrategien abgeleitete Richtwerte für radiologische Messgrößen festgelegt. Besonders im Hinblick auf erforderliche frühe Entscheidungen über Maßnahmen sind in dieser Empfehlung abgeleitete Richtwerte in Form von definierten Werten für Messgrößen als wichtiges Element einer Schutzstrategie entwickelt worden.

Ergänzend zu dieser Zusammenstellung abgeleiteter Richtwerte besteht als frühere Empfehlung der SSK der zuletzt 2007 aktualisierte und als Maßnahmenkatalog bezeichnete Bericht „Übersicht über Maßnahmen zur Verringerung der Strahlenexposition nach Ereignissen mit nicht unerheblichen radiologischen Auswirkungen (Maßnahmenkatalog)“ (SSK 2007). Darin empfohlene Maßnahmen beziehen sich überwiegend auf einen schweren Kernkraftwerksunfall mit einem aus Risikostudien entnommenen Quellterm in die Atmosphäre freigesetzter Radionuklide. Auf dieser Grundlage werden für ein Referenznuklidgemisch und für Einzelnuklide wichtiger Iod‑ und Cs‑Isotope prognostische und auf Radionuklidmessungen basierte abgeleitete Richtwerte für Maßnahmen empfohlen. Diese dienen als Entscheidungshilfe für eine Vielzahl praktischer Maßnahmen, z. B. in der Landwirtschaft, der Kontaminationskontrolle von Luftfiltern und weiteren wichtigen Maßnahmen zur Reduzierung einer Exposition von Personen. Dieser Maßnahmenkatalog wird gegenwärtig überarbeitet.

Die Umsetzung konkreter Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung und von Einsatzpersonal erfordert die Mitwirkung der davon betroffenen Personen und eine vertrauenswürdige, faktenbasierte und zeitnahe Information der Öffentlichkeit. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn bereits bei der Entwicklung von Schutzstrategien für die zu analysierenden Referenzszenarien auch die Grundlagen für die Information der Öffentlichkeit miteinbezogen werden. Dabei sind auch die Sorgen der betroffenen Personen um die eigene Gesundheit und die nahestehender Personen und die mit Unsicherheit und Ängsten einhergehende psychische Belastung zu berücksichtigen.

Nach Ansicht der SSK sind die in dieser Empfehlung enthaltenen Punkte in ein zukünftiges eigenes Konzept der Krisenkommunikation zu integrieren, das in dieser Empfehlung nicht behandelt werden kann.

3.2 Empfehlungen

Die SSK empfiehlt, in einer Notfallexpositionssituation folgende abgeleitete Richtwerte anzuwenden:

Tabelle 1:

Vorgeschlagene abgeleitete Richtwerte für Schutzmaßnahmen für kurze Zeiträume

Maßnahme Richtwert der Dosis Messgröße Abgeleiteter Richtwert
Aufforderung zum Aufenthalt in Gebäuden oder Abgrenzung eines radiologischen Gefahren­bereiches 10 mSv eff. Dosis/7 d bei unterstelltem Daueraufenthalt im Freien Gamma-Ortsdosisleistung (ODL) 100 µSv h–1
10 mSv eff. Dosis/7 d bei unterstelltem Daueraufenthalt im Freien Alpha-Kontamination 106 Bq m–2
Beta-Kontamination 107 Bq m–2
Evakuierung 100 mSv eff. Dosis/7 d bei unterstelltem Daueraufenthalt im Freien Gamma ODL 1 000 µSv h–1
100 mSv eff. Dosis/7 d bei unterstelltem Daueraufenthalt im Freien Alpha-Kontamination 107 Bq m–2
Beta-Kontamination 108 Bq m–2

Tabelle 2:

Vorgeschlagene abgeleitete Richtwerte für Schutzmaßnahmen für längere Zeiträume

Maßnahme Richtwert der Dosis Messgröße Abgeleiteter Richtwert
Maßnahmenpaket Landwirtschaft (als schnelle prophylaktische Maßnahme bei Kernkraftwerksunfällen) 10 mSv eff. Dosis/a Gamma ODL 1 µSv h–1
Anwendung der Lebensmittel-Höchstwerte EURATOM 1 mSv eff. Dosis/a Bq kg–1 Nuklidspezifische Werte, EU-Richtwerte sind zu übernehmen
Kontaminationskontrollen von Gegenständen beim Übergang zwischen Gebieten 1 mSv eff. Dosis/a verursacht durch Gegenstände Bq cm–2 100-fache Kontaminationswerte Anlage 4, Tabelle 1 Spalte 5 StrlSchV (2018)
oder
Gesamt-Alpha 10 Bq cm–2
Gesamt-Beta 100 Bq cm–2
Gesamt-Gamma 100 Bq cm–2
Kontaminationskontrollen/Dekontamination von Personen beim Übergang zwischen ­Gebieten 50 mSv Hautdosis durch Kontamination von Haut und Kleidung Bq cm–2 Gesamt-Alpha 10 Bq cm–2
Gesamt-Beta 100 Bq cm–2
Gesamt-Gamma 100 Bq cm–2

Gemäß § 94 Absatz 2 StrlSchG ist das BMU ermächtigt, für einen bereits eingetretenen Notfall und für eine nach einem Notfall bestehende Expositionssituation Grenzwerte für notfallbedingte Kontaminationen oder Dosisleistungen durch Rechtsverordnung festzulegen. Einige der in Tabelle 2 aufgeführten abgeleiteten Richtwerte können aus Sicht der SSK dafür herangezogen werden.

Ergänzend zu diesen beiden Übersichtstabellen werden hier die detaillierten Tabellen der abgeleiteten Richtwerte für einzelne Schutzmaßnahmen aus der Wissenschaftlichen Begründung aufgeführt:

Tabelle 3 a:

Festlegungen zum abgeleiteten Richtwert für die Maßnahme „Aufforderung zum Aufenthalt in Gebäuden“ bei Verwendung der Messgröße ODL

Maßnahme Aufenthalt in Gebäuden
Richtwert der Dosis Eingreifrichtwert 10 mSv effektive Dosis in sieben Tagen, angenommener Dauer­aufenthalt im Freien
Messgröße ODL in ca. 1 m Höhe über der kontaminierten Fläche
Expositionspfade Externe Strahlung von kontaminierten Oberflächen, insbesondere Boden
Inhalation nach Resuspension
Unbeabsichtigte Ingestion
Modellierung Expositionspfade Bezieht sich auf Notfallszenarien mit dominierender Gammastrahlung, Berücksichtigung der zeitlichen Entwicklung der ODL in sieben Tagen für repräsentative Nuklidzusammensetzung bei verschiedenen Kernkraftwerksunfällen, Daueraufenthalt im Freien. Externe Strahlung dominiert.
Abgeleiteter Richtwert 100 µSv h–1
Hinweise Die gemessene ODL bezieht sich auf mittlere Werte in Aufenthaltsbereichen von Personen im Freien. Dieser abgeleitete Richtwert (OIL-Wert) wird auch von der IAEA (IAEA 2017) bei Kernkraftwerksunfällen empfohlen. Der abgeleitete Richtwert von 100 µSv h–1 ist auch bei den sonstigen Ereignissen mit dominanter Gammastrahlung durch Radionuklide mit größeren Halbwertzeiten im Vergleich zur Bezugszeit von sieben Tagen als Startwert geeignet (siehe wissenschaftl. Begründung).

Tabelle 3 b:

Festlegungen zum abgeleiteten Richtwert für die Maßnahme „Aufforderung zum Aufenthalt in Gebäuden“ bei Verwendung der Messgröße „Bodenkontamination“

Maßnahme Aufenthalt in Gebäuden
Richtwert der Dosis Eingreifrichtwert 10 mSv effektive Dosis in sieben Tagen, angenommener Dauer­aufenthalt im Freien
Messgröße Bodenkontamination in Bq m–2
Expositionspfade Externe Strahlung
Inhalation nach Resuspension
Unbeabsichtigte Ingestion
Modellierung Expositionspfade Alpha- oder Betastrahlung dominiert
Abgeleiteter Richtwert 106 Bq m–2 Alpha
107 Bq m–2 Beta
Hinweise Diese Werte sind aus „Abgeleitete Richtwerte für Maßnahmen zum Schutz von Personen bei Kontaminationen der Umwelt mit Alpha- und Betastrahlern“ (SSK 2015) übernommen.

Tabelle 4 a:

Festlegungen zum abgeleiteten Richtwert für die Maßnahme „Evakuierung“ bei Verwendung der Messgröße ODL

Maßnahme Evakuierung
Richtwert der Dosis Eingreifrichtwert 100 mSv effektive Dosis in sieben Tagen, angenommener Dauer­aufenthalt im Freien
Messgröße ODL in ca. 1 m Höhe über der kontaminierten Fläche
Expositionspfade Externe Strahlung von kontaminierten Oberflächen, insbesondere Boden
Inhalation nach Resuspension
Unbeabsichtigte Ingestion
Modellierung Expositionspfade Bezieht sich auf Notfallszenarien mit dominierender Gammastrahlung, Berücksichtigung der zeitlichen Entwicklung der ODL in sieben Tagen für repräsentative Nuklidzusammensetzung bei verschiedenen Kernkraftwerksunfällen, Daueraufenthalt im Freien. Externe Strahlung dominiert.
Abgeleiteter Richtwert 1 000 µSv h-1
Hinweise Die gemessene ODL bezieht sich auf mittlere Werte in Aufenthaltsbereichen von Personen im Freien. Dieser Wert wird auch von der IAEA (IAEA 2017) empfohlen. Bei anderen Freisetzungsereignissen als schwere Kernkraftwerksunfälle sind so hohe ODL-Werte sehr unwahrscheinlich (siehe wissenschaftl. Begründung).

Tabelle 4 b:

Festlegungen zum abgeleiteten Richtwert für die Maßnahme „Evakuierung“ bei Verwendung der Messgröße „Bodenkontamination“

Maßnahme Evakuierung
Richtwert der Dosis Eingreifrichtwert 100 mSv effektive Dosis in sieben Tagen, angenommener Dauer­aufenthalt im Freien
Messgröße Bodenkontamination in Bq m–2
Expositionspfade Externe Strahlung
Inhalation nach Resuspension
Unbeabsichtigte Ingestion
Modellierung Expositionspfade Alpha- oder Betastrahlung dominiert
Abgeleiteter Richtwert 107 Bq m–2 Alpha
108 Bq m–2 Beta
Hinweise So hohe Kontaminationen durch luftgetragene und dann deponierte Alpha- oder Betastrahlung sind sehr unwahrscheinlich.

Tabelle 5 a:

Festlegungen zum abgeleiteten Richtwert für die Maßnahme „Abgrenzung eines radiologischen Gefahrenbereiches“ bei Verwendung der Messgröße ODL

Maßnahme Abgrenzung eines radiologischen Gefahrenbereiches
Richtwert der Dosis 10 mSv effektive Dosis in sieben Tagen, angenommener Daueraufenthalt im radiologischen Gefahrenbereich im Freien
Messgröße ODL in ca. 1 m Höhe über der kontaminierten Fläche
Expositionspfade Externe Strahlung von kontaminierten Oberflächen, insbesondere Boden
Inhalation nach Resuspension
Unbeabsichtigte Ingestion
Modellierung Expositionspfade Notfallszenarien mit dominierender Gammastrahlung, Daueraufenthalt im Freien. Externe Strahlung dominiert.
Abgeleiteter Richtwert 100 µSv h–1
Hinweise Die an der äußeren Begrenzung des radiologischen Gefahrenbereiches gemessene ODL soll 100 µSv h–1 unterschreiten. Für längerlebige Gamma-Strahler stellt der abgeleitete Richtwert einen zur nächsten Zehnerpotenz aufgerundeten Wert dar.

Tabelle 5 b:

Festlegungen zum abgeleiteten Richtwert für die Maßnahme „Abgrenzung eines radiologischen Gefahrenbereiches“ bei Verwendung der Messgröße „Bodenkontamination“

Maßnahme Abgrenzung eines radiologischen Gefahrenbereiches
Richtwert der Dosis 10 mSv effektive Dosis in sieben Tagen, angenommener Daueraufenthalt im radiologischen Gefahrenbereich
Messgröße Bodenkontamination in Bq m–2
Expositionspfade Externe Strahlung
Inhalation nach Resuspension
Unbeabsichtigte Ingestion
Modellierung Expositionspfade Alpha- oder Betastrahlung dominiert
Abgeleiteter Richtwert 106 Bq m–2 Alpha
107 Bq m–2 Beta
Hinweise Die an der äußeren Begrenzung des radiologischen Gefahrenbereiches gemessene Kontamination durch dominierende Alpha- oder Betastrahlung soll die abgeleiteten Richtwerte unterschreiten. Diese Werte sind aus „Abgeleitete Richtwerte für Maßnahmen zum Schutz von Personen bei Kontaminationen der Umwelt mit Alpha- und Betastrahlern“ (SSK 2015) übernommen. So hohe Kontaminationswerte ohne nennenswerte Gammastrahlung sind sehr unwahrscheinlich.

Tabelle 6:

Festlegungen zum abgeleiteten Richtwert für die Maßnahme „Kontaminationskontrolle von Gegenständen beim Verlassen eines radiologischen Gefahrenbereiches“ bei Verwendung der Messgröße „Oberflächenkontamination“

Maßnahmen Kontaminationskontrolle/Dekontamination von Gegenständen bei Verlassen des radiologischen Gefahrenbereiches
Richtwert der Dosis 1 mSv effektive Dosis im Jahr
Messgröße Oberflächenkontamination einer kontaminierten Fläche
Expositionspfade Externe Strahlung
Inhalation nach Resuspension
Unbeabsichtigte Ingestion
Modellierung Expositionspfade Modellierung gemäß Verfahrensweise bei Ableitung der Kontaminationswerte Anlage 4, Tabelle 1 Spalte 5 StrlSchV (2018) für Gegenstände
Abgeleiteter Richtwert 100-fache Kontaminationswerte Anlage 4, Tabelle 1 Spalte 5 StrlSchV (2018) für Gegenstände
Gesamt-Alpha 10 Bq cm–2
Gesamt-Beta 100 Bq cm–2
Gesamt-Gamma 100 Bq cm–2
Hinweise Bei Gammastrahlung kann der Nachweis mit Kontaminationsmessgerät meist empfindlicher über begleitende Betastrahlung erfolgen.

Tabelle 7:

Festlegungen zum abgeleiteten Richtwert für die Maßnahme „Kontaminationskontrolle von Personen beim Verlassen eines radiologischen Gefahrenbereiches“ bei Verwendung der Messgröße „Oberflächenkontamination auf Haut und Kleidung“

Maßnahmen Kontaminationskontrolle/Dekontamination von Personen bei Verlassen des radiolo­gischen Gefahrenbereiches
Richtwert der Dosis 50 mSv Hautdosis durch die Kontamination
Messgröße Oberflächenkontamination von Haut und Kleidung
Expositionspfade Hautdosis durch Kontamination
Modellierung Expositionspfade Modellierung gemäß Verfahrensweise in SSK-Empfehlung „Abgeleitete Richtwerte für Maßnahmen zum Schutz von Personen bei Kontaminationen der Umwelt mit Alpha- und Betastrahlern“
Abgeleiteter Richtwert Gesamt-Alpha 10 Bq cm–2
Gesamt-Beta 100 Bq cm–2
Gesamt-Gamma 100 Bq cm–2
Hinweise Bei Gammastrahlung kann der Nachweis mit Kontaminationsmessgerät meist empfindlicher über begleitende Betastrahlung erfolgen.

Tabelle 8:

Festlegungen zum abgeleiteten Richtwert für die Maßnahme „Kontaminationskontrollen von Gegenständen, Fahr­zeugen und Waren beim Übergang zwischen Gebieten“ bei Verwendung der Messgröße „Oberflächenkontamination“

Maßnahmen Kontaminationskontrolle/Dekontamination beim Übergang zwischen Gebieten (für Gegenstände, Fahrzeuge, Waren)
Richtwert der Dosis 1 mSv effektive Dosis im Jahr
Messgröße Oberflächenkontamination Bq cm–2
Expositionspfade Externe Strahlung
Inhalation nach Resuspension
Unbeabsichtigte Ingestion
Modellierung Expositionspfade Modellierung gemäß Verfahrensweise bei Ableitung der Kontaminationswerte Anlage 4, Tabelle 1 Spalte 5 StrlSchV (2018)
Abgeleiteter Richtwert 100-fache Kontaminationswerte Anlage 4, Tabelle 1 Spalte 5 StrlSchV (2018), Messung mit Kontaminationsmessgerät
oder
Gesamt-Alpha 10 Bq cm–2
Gesamt-Beta 100 Bq cm–2
Gesamt-Gamma 100 Bq cm–2
Hinweise Bei Gammastrahlung kann der Nachweis mit Kontaminationsmessgerät meist empfindlicher über begleitende Betastrahlung erfolgen.

Tabelle 9:

Festlegungen zum abgeleiteten Richtwert für die Maßnahme „Kontaminationskontrolle/Dekontamination von Personen beim Übergang zwischen Gebieten“ bei Verwendung der Messgröße „Oberflächenkontamination auf Haut und Kleidung“

Maßnahmen Kontaminationskontrolle/Dekontamination von Personen beim Übergang zwischen Gebieten
Richtwert der Dosis 50 mSv Hautdosis durch die Kontamination
Messgröße Oberflächenkontamination von Haut und Kleidung
Expositionspfade Hautdosis durch Kontamination
Modellierung Expositionspfade Modellierung gemäß Verfahrensweise in SSK-Empfehlung „Abgeleitete Richtwerte für Maßnahmen zum Schutz von Personen bei Kontaminationen der Umwelt mit Alpha- und Betastrahlern“
Abgeleiteter Richtwert Gesamt-Alpha 10 Bq cm–2
Gesamt-Beta 100 Bq cm–2
Gesamt-Gamma 100 Bq cm–2
Hinweise Bei Gammastrahlung kann der Nachweis mit Kontaminationsmessgerät meist empfindlicher über begleitende Betastrahlung erfolgen.

Tabelle 10:

Festlegungen zum abgeleiteten Richtwert für die Maßnahme „Landwirtschaftliches Maßnahmenpaket“ bei Verwendung der Messgröße ODL

Landwirtschaftliches
Maßnahmenpaket
Empfehlung zum Verzicht des Verzehrs frisch geernteter Lebensmittel
Auf Ernte verzichten (Verschieben der Ernte)
Vieh nicht weiden lassen und nicht mit frisch geernteten Futtermitteln versorgen
Oberflächenwasser nicht als Viehtränke und nicht zur Bewässerung von Anbaukulturen verwenden
Richtwert der Dosis 10 mSv effektive Dosis im Jahr (unter der Annahme, dass 50 % der konsumierten Nahrung kontaminiert sind)
Messgröße ODL in ca. 1 m Höhe über der kontaminierten Fläche
Expositionspfade Ingestion von Lebensmitteln
Modellierung Expositionspfade Es ist der Zusammenhang zwischen der Messgröße Ortsdosisleistung durch trocken oder nass abgelagerte Radionuklide auf Bewuchs und Boden und der Aktivitätskonzentration in Lebensmitteln während eines Jahres zu bestimmen. Zur Berechnung der Ingestionsdosis der repräsentativen Person werden Annahmen zu deren Verzehrsgewohnheiten und über den Anteil der Nahrung, der kontaminiert ist, getroffen. Die Modellierung ist von (IAEA 2017) für Freisetzungen bei Kernkraftwerksunfällen übernommen. Dabei wird angenommen, dass 50 % aller Nahrungsmittel durch abgelagerte radioaktive Stoffe belastet sind. Es sind ergänzende JRODOS-Rechnungen durch das BfS durchgeführt worden.
Abgeleiteter Richtwert 1 µSv h–1
Hinweise Dieser ODL-Wert kann mit ortsfesten und mobilen Strahlungsmessgeräten gemessen werden. Es ist darauf zu achten, dass dabei für landwirtschaftlich genutzte Flächen repräsentative Werte ermittelt werden. Messungen der ODL werden auch zur Identifikation von Gebieten herangezogen, in denen das IMIS-Intensivmessprogramm durchzuführen ist. Die IAEA verwendet diesen abgeleiteten Richtwert ebenfalls.
Bei einer ODL von 1 µSv h–1 kann es bei Blattgemüse und anderen Lebens- und Futtermitteln vorübergehend zu Überschreitung von EU-Höchstwerten kommen.
Sowohl der Richtwert der Dosis als auch die Methodik bei der Bestimmung des zugehörigen abgeleiteten Richtwertes sind in enger Wechselbeziehung zu sehen. Es ist daher nicht als inkompatibel anzusehen, dass der Richtwert der Dosis für das landwirtschaftliche Maßnahmenpaket mit 10 mSv a–1 effektive Dosis angesetzt ist und für die Herleitung der EU-Höchstwerte für Lebens- und Futtermittel 1 mSv a–1 herangezogen wird.

Tabelle 11:

Festlegungen zum abgeleiteten Richtwert für die Maßnahme „Höchstwerte der Aktivitätskonzentration in Lebens- und Futtermitteln“ bei Verwendung der Messgröße Aktivitätskonzentration

Maßnahme Verbot des Inverkehrbringens von Lebens- und Futtermitteln
Richtwert der Dosis 1 mSv effektive Dosis im Jahr (unter der Annahme, dass 10 % der jährlich konsumierten Nahrung bis zum Limit kontaminiert sind)
Messgröße Aktivitätskonzentration in Lebensmitteln [Bq kg–1]
Expositionspfade Ingestion von Lebensmitteln
Modellierung Expositionspfade Modellierung liegt der Begründung der EU-Höchstwerte zugrunde (EC 1998)
Abgeleiteter Richtwert EU-Höchstwerte (Euratom 2016)
Hinweise Die Nachweispflicht der Einhaltung obliegt dem Inverkehrbringer von Erzeugnissen.
Der Hersteller, Händler oder Inverkehrbringer hat die einwandfreie Qualität des Erzeugnisses für den menschlichen Gebrauch hinsichtlich radioaktiver Stoffe sicherzustellen.
Die Einhaltung der EU-Höchstwerte wird durch systematische Stichproben überprüft. Vereinzelte Überschreitungen von EU-Höchstwerten in Lebensmitteln be­deuten keine ins Gewicht fallende gesundheitliche Gefährdung. Dadurch wird die Einhaltung des Richtwertes der Dosis von 1 mSv effektive Dosis im Jahr nicht infrage gestellt.

Wissenschaftliche Begründung

1 Einleitung

Gemäß § 94 Absatz 2 des Strahlenschutzgesetzes (StrlSchG 2017) wird das BMU ermächtigt, für mögliche Notfälle, für einen bereits eingetretenen Notfall und für eine nach einem Notfall bestehende Expositionssituation durch Rechtsverordnung Grenzwerte für notfallbedingte Kontaminationen oder Dosisleistungen festzulegen.

Die Grenzwerte sind gemäß § 94 Absatz 2 StrlSchG für folgende Bereiche festzulegen:

1.
für Einzelpersonen der Bevölkerung,
2.
für das Trinkwasser,
3.
für Lebensmittel, Futtermittel, Bedarfsgegenstände, kosmetische Mittel und Erzeugnisse im Sinne von § 2 Nummer 1 des Tabakerzeugnisgesetzes,
4.
für Arzneimittel und deren Ausgangsstoffe, sowie für Medizinprodukte,
5.
für sonstige Produkte, Gegenstände und Stoffe,
6.
für Fahrzeuge, Güter oder Gepäck, und
7.
für kontaminierte Gebiete, insbesondere für kontaminierte Grundstücke und Gewässer.

Die Grenzwerte sind gemäß § 94 Absatz 2 StrlSchG so festzulegen, dass bei Überschreitung davon auszugehen ist, dass eine Gefahr für Einzelpersonen aus der Bevölkerung durch ionisierende Strahlung besteht. Weiterhin sollen diese Grenzwerte die Durchführung optimierter Schutzstrategien nach § 98 Absatz 3 Satz 1 Nummer 1 StrlSchG unter­stützen.

Die in diesem Dokument enthaltenen sogenannten „Abgeleiteten Richtwerte für Maßnahmen zum Schutz der Be­völkerung“ sind eine Empfehlung zur Festlegung von Grenzwerten für notfallbedingte Kontaminationen oder Dosisleistungen. Abgeleitete Richtwerte für Schutzmaßnahmen beziehen sich auf Messwerte, die die entstandene Kontaminationssituation erfassen. Sie sollen aus Sicht des Strahlenschutzes eine verhältnismäßige und gerechtfertigte Grundlage für Maßnahmenentscheidungen bilden. Dafür ist es wichtig, dass Strahlungsmesswerte repräsentativ für das kontaminierte Gebiet sind, für das Entscheidungen über Schutzmaßnahmen getroffen werden. Soweit diese ­Maßnahmen Personen betreffen, die dort wohnen oder das Gebiet frequentieren, besteht die Anforderung, dass aus lokal erhobenen Messwerten ein adäquater Mittelwert gebildet wird, der für Aufenthaltsorte und Aufenthaltsdauern der Bevölkerung möglichst repräsentativ ist.

2 Grundlagen

Auf dem Gebiet des radiologischen Notfallschutzes sind in den vergangenen etwa zehn Jahren erhebliche Weiterentwicklungen erfolgt, die ganz wesentlich durch ICRP 103 (ICRP 2007) angestoßen worden sind. Damit verbunden sind teilweise neue Begrifflichkeiten und Präzisierungen der Anforderungen an den Notfallschutz.

In der Empfehlung „Radiologische Grundlagen für Entscheidungen über Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung bei Ereignissen mit Freisetzung von Radionukliden“ (SSK 2014) sind die Begriffe, Grundsätze und Konzepte für die Planung und Veranlassung von Schutzmaßnahmen bei radiologischen Notfällen zusammengefasst.

Die IAEA hat sich in einer Vielzahl von Dokumenten mit der praktischen Umsetzung dieser Anforderungen an den Notfallschutz befasst mit dem Ziel, eine internationale Harmonisierung bei der praktischen Umsetzung der Grundsätze des radiologischen Notfallschutzes zu unterstützen (IAEA 2007, IAEA 2015, IAEA 2017).

Die EU-Grundnormen zum Strahlenschutz von 2013 (Euratom 2014) präzisieren ausführlich, wie der radiologische Notfallschutz zu planen und zu organisieren ist. Sie sind durch das StrlSchG von 2017 in nationales Recht umgesetzt worden.

Danach müssen die zuständigen Behörden sicherstellen, dass Schutzstrategien für Notfallexpositionssituationen im Rahmen der Notfallvorsorge vorab entwickelt, gerechtfertigt und optimiert und im Ereignisfall zeitgerecht umgesetzt werden. Dazu müssen angemessene Reaktionen auf eine Notfallexpositionssituation anhand postulierter Ereignisse und entsprechender Szenarien auf der Grundlage von Gefährdungsanalysen geplant werden.

Nach derzeitigem Stand der Arbeiten werden im Allgemeinen Notfallplan des Bundes für die Notfallplanung folgende Referenzszenarien zugrunde gelegt:

Nr. Szenario Kurzbeschreibung
S0  Unklare Situation Meldungen oder Gerüchte deuten auf eine Freisetzung bzw. einen radiologischen Notfall hin.
S1  Unfall in einem deutschen Kernkraftwerk Die Alarmierungskriterien sind erfüllt und eine Freisetzung droht oder ist eingetreten, deren mögliche radiologische Folgen Schutzmaßnahmen erfordern.
S2  Unfall in einem Kernkraftwerk im grenznahen Ausland Ein Unfall in einem grenznahen Kernkraftwerk ( 100 km von der deutschen Grenze) droht oder ist eingetreten, dessen mögliche radiologische Folgen Schutzmaßnahmen in Deutschland erfordern können.
S3  Unfall in einem Kernkraftwerk im übrigen Europa Ein Unfall in einem Kernkraftwerk in Europa, das mehr als 100 km vom deutschen Staatsgebiet entfernt liegt, bei dem eine Freisetzung droht oder eingetreten ist.
S4  Unfall in einem Kernkraftwerk außerhalb Europas Ein Unfall in einem Kernkraftwerk außerhalb Europas, bei dem eine Freisetzung droht oder eingetreten ist.
S5  Unfall in kerntechnischen Anlagen und Einrichtungen, die keine Kernkraftwerke sind Ein Unfall in anderen kerntechnischen Anlagen und Einrichtungen, wie z. B. Forschungsreaktoren, Urananreicherungsanlagen oder Lager mit abgebrannten Brennelementen
S6  Terroristischer oder anderweitig motivierter Akt Bspw. sogenannte schmutzige Bombe
S7  Transportunfall Unfall beim Transport von radioaktiven Stoffen
S8  Unfälle mit radioaktiven Quellen Unfall beim Umgang mit radioaktiven Quellen oder anderen Strahlungsquellen, Ereignisse in Zusammenhang mit vagabundierenden Quellen
S9  Satellitenabsturz Absturz von Satelliten mit radiologisch relevantem Material an Bord
S10 Verteidigungs- oder ­Spannungsfall  

2.1 Schutzstrategien

Ziel einer Schutzstrategie ist, die Strahlenexposition der Bevölkerung und der Einsatzkräfte so zu begrenzen, dass deterministische Strahlenwirkungen vermieden werden und das Risiko stochastischer Strahlenwirkungen gering bleibt. Ausgehend von diesem übergeordneten Ziel lässt sich schrittweise eine Schutzstrategie entwickeln, wie in den Radiologischen Grundlagen (SSK 2014) beschrieben und im Folgenden kurz zusammengefasst.

Zuerst wird ein Referenzwert für die verbleibenden Dosis (siehe Glossar) festgelegt, der sich auf die effektive Dosis bezieht und Dosisbeiträge über alle Expositionspfade (Inhalation, externe Strahlung, Ingestion) berücksichtigt. Bei der Abschätzung der infolge einer Notfallexpositionssituation auftretenden verbleibenden Dosis werden die Wirkung getroffener Schutzmaßnahmen und gängige Verhaltensweisen berücksichtigt. Da Notfallsituationen auch mit Schutzmaßnahmen verbunden sein können, die schwerwiegende Eingriffe in das Leben von Personen bewirken können, hat die SSK dem Gebot der Rechtfertigung und Verhältnismäßigkeit entsprechend in den Radiologischen Grundlagen (SSK 2014) einen Referenzwert für die verbleibende Dosis im ersten Jahr von 100 mSv effektive Dosis vorgeschlagen. Dieser Referenzwert für den Schutz der Bevölkerung in Notfallexpositionssituationen ist in § 93 StrlSchG festgelegt. Für die in der Planung zu entwickelnde Schutzstrategie gilt, dass die verbleibende Dosis bei Exposition der Bevölkerung in Bezug auf die Zahl exponierter Personen und die Höhe der individuellen Dosen sowohl oberhalb als auch unterhalb des Referenzwertes so niedrig gehalten wird, wie es unter Berücksichtigung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Faktoren vernünftigerweise erreichbar ist (gemäß einer Vorgehensweise nach dem „ALARA-Prinzip“, as low as reasonably achievable). An die zu entwickelnde Schutzstrategie wird die Forderung gestellt, dass sie optimiert wird. Dem Gebot der Optimierung entsprechend kann der Referenzwert für die verbleibende Dosis mit der tatsächlich entstandenen und sich entwickelnden radiologischen Situation reduziert werden und beim Übergang zu einer be­stehenden Expositionssituation im Bereich unterhalb von 20 mSv pro Jahr behördlich festgelegt werden mit der Zielsetzung, langfristig in den Bereich von 1 mSv effektive Dosis pro Jahr zu kommen.

Unter Beachtung des Referenzwertes für die verbleibende Dosis im ersten Jahr werden dann Richtwerte der Dosis während eines Bezugszeitraumes als radiologische Kriterien für die Angemessenheit zu ergreifender Schutzmaßnahmen festgelegt. Dazu zählen insbesondere auch die Richtwerte der Dosis für die frühen Maßnahmen „Evakuierung“, „Aufforderung zum Aufenthalt in Gebäuden“ und „Aufforderung zur Einnahme von Iodtabletten“. Die Richtwerte der Dosis für diese drei Schutzmaßnahmen werden in den Radiologischen Grundlagen als Eingreifrichtwerte bezeichnet und sind in der Notfall-Dosiswerte-Verordnung (NDWV 2018) verbindlich festgelegt. Sie beziehen sich auf die Exposition von Personen während einer Bezugszeit von sieben Tagen. Falls Richtwerte der Dosis für Maßnahmen vorhersehbar erreicht oder überschritten werden, sind aus Sicht des Strahlenschutzes entsprechende Schutzmaßnahmen angemessen. Bei der Entscheidung über die tatsächliche Durchführung der Schutzmaßnahmen müssen zusätzlich weitere, nicht-radiologische Aspekte (wie z. B. Durchführbarkeit der Maßnahme, soziale und wirtschaftliche Aspekte) berücksichtigt werden. Bei der Festlegung von Richtwerten der Dosis wird insbesondere die Verhältnismäßigkeit zwischen dem gesundheitlichen Risiko einer Strahlenexposition und der mit den einzelnen Schutzmaßnahmen verbundenen Schwere des Eingriffs in das persönliche Leben berücksichtigt.

Nachdem Richtwerte der Dosis für Schutzmaßnahmen entwickelt worden sind, werden daraus im Voraus festgelegte Kriterien zur Einleitung der verschiedenen Notfallmaßnahmen abgeleitet. Derartige Kriterien können Richtwerte der Dosis selbst sein (wenn durch rechnerische Dosisabschätzungen ein direkter Vergleich mit diesen möglich ist), oder die hier im Vordergrund stehenden Richtwerte für Messgrößen als Kriterium für Schutzmaßnahmen. Diese werden im Folgenden als abgeleitete Richtwerte (Operational Intervention Levels (OILs)) bezeichnet. Messgrößen können beispielsweise die Dosisleistung, das Kontaminationsniveau von Böden und anderen Oberflächen oder die Aktivitätskonzentration in der Umwelt oder in Lebensmitteln und Gegenständen sein. Für abgeleitete Richtwerte müssen

bereits vor Eintritt eines Notfalls Startwerte festgelegt sein, sie können dann im weiteren Verlauf eines radiologischen Notfalls an die sich ändernden Bedingungen angepasst werden. Abgeleitete Richtwerte sollen speziell in der Frühphase eines radiologischen Ereignisses eine zeitnahe, zügige Veranlassung von Schutzmaßnahmen oder Anpassung von bereits ergriffenen Schutzmaßnahmen auf der Grundlage von Prognosen unterstützen.

Insbesondere für Schutzmaßnahmen, die nach eingetretener Kontaminationssituation möglichst frühzeitig durch­geführt werden sollten, sind schnell verfügbare Messungen erforderlich. Für durch Gammastrahlung dominierte ­Kontaminationen stehen dabei vergleichsweise leicht durchführbare Ortsdosisleistungs- (ODL-) Messungen (z. B. µSv h–1) im Vordergrund, andernfalls Messungen der Kontamination von Böden und anderen Oberflächen (z. B. Bq cm–2 oder Bq m–2). Dabei ist wichtig, dass das eingesetzte Personal über Erfahrung mit solchen Messungen verfügt. Besonderes Augenmerk ist darauf zu legen, dass die erfasste radiologische Lage für von der Öffentlichkeit bewohnte oder frequentierte Bereiche repräsentativ ist. Gerade bei durch Freisetzung radioaktiver Stoffe in die um­gebende Atmosphäre entstandenen Kontaminationssituationen führen zeitliche oder räumliche Variationen der Ausbreitungs- und Depositionsbedingungen sowie der Geländeeigenschaften, Geländenutzung und Eigenschaften von Bebauung und Bewuchs zu Fluktuationen bei den Messergebnissen. Nicht lokale Messwertspitzen, sondern eine für das in Frage stehende Maßnahmengebiet adäquate Mittelungsprozedur für repräsentative Messwerte sollten als Grundlage für Maßnahmenentscheidungen eingesetzt werden.

Die Beziehung zwischen dem begründet festgelegten Richtwert für die verbleibende Dosis für eine Schutzmaßnahme und dem dazu abgeleiteten Richtwert als erfassende Messgröße der entstandenen Kontaminationssituation erfordert Modellannahmen. Die Modellierung der Exposition von Personen, der erhaltenen Dosis und die dabei verwendeten Parameterwerte sollten möglichst realitätsnah und nicht in konservativer Richtung überzogen sein. Sie sollen sich jedoch auf die sogenannte repräsentative Person im Sinne von ICRP 101 (ICRP 2006) beziehen. Damit soll, entsprechend den Ausführungen in den Radiologischen Grundlagen (SSK 2014), erreicht werden, dass die Schutzwirkung von Maßnahmen auch Personengruppen mit einbezieht, die in der jeweiligen Situation vergleichsweise hohe Expositionen aufweisen.

Der Referenzwert für die verbleibende Dosis, die verwendeten Richtwerte der Dosis und in diesem Dokument empfohlene abgeleitete Richtwerte für Schutzmaßnahmen bilden in ihrer Gesamtheit die Grundlagen der Entscheidungsfindung für die Planung und Durchführung von Maßnahmen im Ereignisfall und damit das Grundgerüst der Schutzstrategie.

Generell gilt, dass nicht nur die Schutzstrategie insgesamt, sondern auch jede einzelne Schutzmaßnahme zur ­Verringerung stochastischer Effekte gerechtfertigt und verhältnismäßig sein soll, d. h. mit ihr soll mehr Nutzen als Schaden bewirkt werden. Die negativen Folgen einer geplanten Maßnahme – dazu zählen gesundheitliche, ökonomische und soziale Aspekte – sind gegen die Höhe der Dosis ohne die Maßnahme abzuwägen („do more good than harm“). Diese Anforderung der Rechtfertigung und Verhältnismäßigkeit gilt insbesondere auch für die Entwicklung von abgeleiteten Richtwerten.

2.2 Anwendung von abgeleiteten Richtwerten bei den Referenzszenarien

Für eine fundierte Entscheidung über zu treffende Schutzmaßnahmen ist die Erfassung der durch Freisetzung radioaktiver Stoffe entstandenen und sich möglicherweise weiter entwickelnden radiologischen Situation in den betroffenen Gebieten erforderlich. Die abgeleiteten Richtwerte sind für alle Referenzszenarien anwendbar. Sie beziehen sich sowohl auf Unfälle in Kernkraftwerken, die zur Freisetzung sehr hoher Aktivitätsmengen radioaktiver Stoffe in die Umwelt (im Allgemeinen in die umgebende Atmosphäre) führen können, als auch auf weitere radiologische Ereignisse mit Freisetzung radioaktiver Stoffe, die bei den Referenzszenarien aufgeführt werden. Trotz der Unterschiede ­zwischen schweren Kernkraftwerksunfällen und den sonstigen Ereignissen der Referenzszenarien wurden identische abge­leitete Richtwerte erarbeitet, die für alle Referenzszenarien gültig sind.

2.3 Gebiete, Richtwerte der Dosis und abgeleitete Richtwerte

In Zusammenhang mit Notfallschutzmaßnahmen ist die Angabe von räumlichen Begrenzungen und quantitativen Angaben zur dort vorliegenden Expositions- und Kontaminationssituation von Bedeutung. In Frage kommende Gebiete sind z. B.:

Gebiete, in denen die Maßnahme „Aufforderung zum Aufenthalt in Gebäuden“ veranlasst wird
Gebiete, in denen eine Evakuierung angeordnet wird
Gebiete, in denen zur Einnahme von Iodtabletten aufgefordert wird
Gebiete, die als Notfallexpositionsgebiet deklariert werden
Gebiete, die als Gebiet einer bestehenden Expositionssituation ausgewiesen sind
Gebiete, für die eine Umsiedlung angeordnet worden ist
Gebiete, in denen landwirtschaftliche Maßnahmen empfohlen werden
Gebiete mit Überwachung von Lebensmitteln auf Einhaltung der geltenden Lebensmittel-Höchstwerte
Gebiete, für die bei radiologischen Ereignissen mit lokal begrenzten Kontaminationen ein radiologischer Gefahrenbereich zur Gefahrenabwehr abgegrenzt wird
Gebiete, die durch Grenzen eines Landes bestimmt sind, an denen als Folge von radiologischen Ereignissen mit Freisetzung stichprobenartige oder systematische Kontaminationskontrollen von Fahrzeugen und Waren bei Einreise und Ausreise veranlasst werden können.

Die genaue Definition und Bezeichnung rechtlich relevanter Gebiete sind dem zu entwickelnden Notfallplan des ­Bundes zu entnehmen.

Bei einigen dieser Gebiete können Zugangsbeschränkungen und Kontaminationskontrollen von Personen und Gegenständen beim Verlassen und auch beim Zugang eingerichtet werden. Dabei können abgeleitete Richtwerte zur Anwendung kommen, die in den jeweiligen Gebieten gelten und beim Übergang gegebenenfalls mit einer Überprüfung verbunden sind. Diese abgeleiteten Richtwerte können mit der sich entwickelnden radiologischen Lage eine zeitliche Anpassung erfahren, wobei unverändert die Forderung besteht, dass Schutzmaßnahmen gerechtfertigt und verhältnismäßig sein sollen.

3 Festlegung von abgeleiteten Richtwerten (OILs) für Schutzmaßnahmen

Abgeleitete Richtwerte beziehen sich auf eine jeweilige Schutzmaßnahme und basieren auf Messwerten, die eine durch die Freisetzung von radioaktiven Stoffen verursachte Kontamination von Personen und Umwelt erfassen. Solche Messungen durch ortsfeste Messeinrichtungen und durch mobile Messgeräte sind für eine möglichst frühzeitige Ermittlung der durch die Freisetzung tatsächlich entstandenen radiologischen Lage entscheidend. Dadurch kann die durch Freisetzung in die Atmosphäre, atmosphärische Ausbreitung und Deposition entstandene Kontaminationssituation und deren räumliche Ausdehnung erfasst werden. Auf dieser Basis können Maßnahmenentscheidungen mit Hilfe von abgeleiteten Richtwerten getroffen werden oder bereits vorsorglich getroffene Maßnahmenentscheidungen angepasst werden.

Eine Überschreitung der hier vorgestellten abgeleiteten Richtwerte rechtfertigt Schutzmaßnahmen aus radiologischer Sicht, führt aber nicht automatisch zur Auslösung solcher Maßnahmen, da bei der Entscheidung auch noch andere, nicht-radiologische Aspekte berücksichtigt werden müssen.

3.1 Richtwerte der Dosis

Der Richtwert der Dosis für eine Schutzmaßnahme soll so gewählt werden, dass er verträglich ist mit dem übergeordneten Referenzwert für die verbleibende Dosis und gleichzeitig ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der durch die Maßnahme erzielbaren Dosisreduktion und der Schwere des Eingriffs in das persönliche Leben von Personen und im Hinblick auf soziale, ökonomische und weitere Aspekte erreicht werden kann.

Der Richtwert der Dosis zu einer Schutzmaßnahme bezieht sich auf die Strahlenexposition von Personen während einer Bezugszeit, z. B. sieben Tage, ein Jahr.

Für die Notfallschutzmaßnahmen

„Aufenthalt in Gebäuden“,
„Einnahme von Iodtabletten“ und
„Evakuierung“

werden in den Radiologischen Grundlagen (SSK 2014) Richtwerte der Dosis (Eingreifrichtwerte) empfohlen und im Hinblick auf ihre Verträglichkeit mit dem übergeordneten Referenzwert für die verbleibende Dosis und auf die Verhältnismäßigkeit zwischen dem gesundheitlichen Risiko einer Strahlenexposition und der mit den einzelnen Schutzmaßnahmen verbundenen Schwere des Eingriffs in das persönliche Leben diskutiert.

In § 94 StrlSchG „Dosiswerte und Kontaminationswerte für den Schutz der Bevölkerung; Verordnungsermächtigungen“ wird in Absatz 1 auf diese drei Maßnahmen bei möglichen Notfällen Bezug genommen und auf die Ermächtigung des BMU, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates Dosiswerte festzulegen, die „als radiologisches Kriterium für die Angemessenheit“ dieser drei Schutzmaßnahmen dienen. Die konkreten Dosiswerte sind in der ­„Verordnung zur Festlegung von Dosiswerten für frühe Notfallschutzmaßnahmen“ (Notfall-Dosiswerte-Verordnung, NDWV 2018) und in „Allgemeiner Notfallplan des Bundes“ aufgeführt und entsprechen den Eingreifrichtwerten der Radiologischen Grundlagen. Diese Werte beziehen sich auf die Dosis, die betroffene Personen in einem bestimmten Zeitraum (7d) nach Eintritt des Notfalls bei unterstelltem Daueraufenthalt im Freien ohne Schutzmaßnahmen erhalten würden.

Das Gebot der Rechtfertigung und Verhältnismäßigkeit gilt auch für alle weiteren festzulegenden Richtwerte der Dosis für Schutzmaßnahmen und diesen zugeordnete abgeleitete Richtwerte.

3.2 Messgröße

Messungen erfassen und charakterisieren die entstandene Kontaminationssituation. Dabei stehen insbesondere in der Frühphase eines Ereignisses Messgrößen im Vordergrund, die schnell und einfach anzuwenden und zu interpretieren sind. Dazu zählen vornehmlich die Messung der Ortsdosisleistung (ODL) durch gammastrahlende Radionuklide (µSv h–1) sowie die Messung der Oberflächenkontamination (Bq cm–2 oder Bq m–2). Messungen der Aktivitätskonzentration (Bq m–3 oder Bq kg–1) in unterschiedlichen Umweltmedien, Lebensmitteln und Gegenständen, sind im Allgemeinen aufwändiger bei Durchführung und Interpretation.

Die in dieser Empfehlung aufgeführten abgeleiteten Richtwerte zum Schutz der Bevölkerung beziehen sich vornehmlich auf die Zeit unmittelbar nach Eintritt einer entstandenen und sich möglicherweise noch weiterentwickelnden ­Expositionssituation.

3.3 Expositionspfade

Ablagerungsprozesse beim Durchzug einer Schadstoffwolke führen zu einer Kontaminationssituation. Die folgenden vier Expositionspfade können dabei wesentlich zu einer Exposition von Personen beitragen:

Externe Strahlung durch auf Oberflächen abgelagerte gammastrahlende Radionuklide,
Inhalation lungengängiger radioaktiver Partikel nach Resuspension von kontaminierten Oberflächen,
unbeabsichtigte Ingestion von Radionukliden infolge Berührung kontaminierter Oberflächen,
Exposition von strahlungsempfindlichen Schichten der Haut infolge Kontamination von Haut und Kleidung von Personen.

Nicht einbezogen ist die Aktivitätsaufnahme durch Ingestion von Lebensmitteln, da dieser Expositionspfad durch gezielte Regelungen wie der Warnung vor dem Verzehr frisch geernteter Lebensmittel in kontaminierten Gebieten und die Einführung von Lebensmittel- und Futtermittel-Höchstwerten (Euratom 2016) begrenzt wird.

Die oben genannten Expositionspfade sind bei einer luftgetragenen Ausbreitung von radioaktiven Stoffen von Bedeutung. Bei einem Eintrag von radioaktiven Stoffen in aquatische Systeme (wie z. B. Flüsse, Seen, Reservoirs) ist insbesondere der Expositionspfad „Aktivitätsaufnahme durch Ingestion von Lebensmitteln“ relevant, der auch in diesem Fall durch die allgemeinen Regelungen wie Warnung vor Nutzung von Trink- und Tränkwasser und Einschränkungen für den Fischfang in potenziell betroffenen Gebieten sowie die Einführung von Lebensmittel- und Futtermittel-Höchstwerten (Euratom 2016, TrinkwV 2001) begrenzt wird.

3.4 Modellierung der Expositionspfade

Die bei der Modellierung der einzelnen Expositionspfade verwendeten Modelle und Parameterwerte sollten möglichst realitätsnah sein und keine ausgeprägten Konservativitäten aufweisen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass ein auf diese Weise abgeleiteter Richtwert zu einer Schutzmaßnahme führt, deren Rechtfertigung und Verhältnismäßigkeit fragwürdig ist.

Bei längeren Bezugszeiten der Richtwerte der Dosis/Eingreifrichtwerte, z. B. sieben Tage oder ein Jahr, sollte die zeitliche Entwicklung einer Exposition während des betrachteten Zeitraumes bei der Ermittlung des jeweiligen abgeleiteten Richtwertes möglichst berücksichtigt werden. Veränderungen der Exposition über einen längeren Bezugszeitraum können aus Änderungen bei der Nuklidzusammensetzung durch radioaktiven Zerfall resultieren, aber auch aus zeitlichen Änderungen bei Prozessen, die eine Exposition beeinflussen. Dazu zählt z. B. auch die zeitliche Abnahme von Resuspensionsprozessen nach einem Kontaminationsereignis.

Details zu den Expositionspfaden und Expositionsbedingungen und den dabei verwendeten Parametern werden im Anhang A behandelt.

3.5 Abgeleitete Richtwerte

Abgeleitete Richtwerte werden als Dosisleistungen über dem Boden, im Nahbereich von Oberflächen und als flächen-, volumen- oder massenbezogene Aktivitätskonzentrationen abhängig von der verwendeten Messgröße ausgedrückt. Es ist daher möglich, dass für dieselbe Maßnahme unterschiedliche Messgrößen verwendet werden. In solchen Fällen sind dann abgeleitete Richtwerte für die jeweilige Messgröße mit den entsprechenden Einheiten aufgeführt, die jede für sich eine radiologische Rechtfertigung für eine Maßnahme begründen.

3.6 Hinweise

Die Veranlassung einer Schutzmaßnahme basiert auf Messungen der entstandenen Kontaminationssituation im Vergleich mit dem abgeleiteten Richtwert. Sie kann sich nur auf die zukünftige Exposition von Personen beziehen. Eine von Personen während des Vorbeizugs einer Schadstoffwolke oder bei vorausgegangenem Aufenthalt in bereits ­kontaminierten Bereichen erhaltene Exposition kann durch mit dem abgeleiteten Richtwert verbundene Schutzmaßnahmen nicht mehr vermieden werden und wird auch nicht bei der Festlegung des abgeleiteten Richtwertes einbe­zogen. Unabhängig davon können Kontaminationsmessungen oder rechnerische Abschätzungen der individuellen Exposition von betroffenen Personen zur Expositionsanalyse und für weitere Maßnahmen, wie z. B. medizinische Nachsorge, herangezogen werden. Für die Expositionsanalyse können z. B. Parameter wie individuelle Aufenthaltsorte und -zeiten verwendet werden, um Personen mit höherer Exposition zu identifizieren und entsprechende Maßnahmen einzuleiten.

Weitere Hinweise finden sich in den Tabellen der abgeleiteten Richtwerte (Tabelle 5.1 bis 5.9).

4 Anwendung

4.1 Szenarienbedingte Unterschiede

Bei schweren Kernkraftwerksunfällen (S1 bis S4), die zu hohen Freisetzungen führen können, besteht in der Regel eine längere Vorwarnzeit, und es ist von einer zeitlich vorausgehenden Alarmierung des Katastrophenschutzes und entsprechend veranlassten Schutzmaßnahmen für die möglicherweise schwerer betroffene Bevölkerung vor dem Frei­setzungsbeginn auszugehen. Für solche Unfallabläufe stehen umfangreiche anlageninterne und anlagenexterne ­Prognosewerkzeuge zur Verfügung. Frühzeitige Notfallschutzmaßnahmen für die Bevölkerung basieren daher vornehmlich auf prognostizierten Daten, die vor und während der Freisetzung gewonnen werden, wobei von ungünstigen Annahmen über die mögliche radiologische Situation und der dadurch ohne und mit Schutzmaßnahmen möglichen Expositionen von Personen ausgegangen wird. Mit den großen freigesetzten Aktivitätsmengen (Quellterm) bei schweren Kernkraftwerksunfällen sind die Gebiete groß, die durch atmosphärische Ausbreitung und Deposition aus der Schadstoffwolke so beaufschlagt werden können, dass Notfallschutzmaßnahmen erforderlich werden. Ein weiteres Spezifikum ist darauf zurückzuführen, dass sich die Freisetzung erheblicher Aktivitätsmengen über eine längere Zeitdauer erstrecken kann, sodass damit auch die entstehende radiologische Lage noch wesentlichen zeitlichen und räumlichen Entwicklungen unterliegt und demzufolge auch für auf Prognosen basierte, bereits getroffene Notfallschutzmaßnahmen zeitliche und räumliche Anpassungen erforderlich werden können. Messungen der bis zu einem Zeitpunkt ­entstandenen Kontaminationssituation bilden die Grundlage für die Veranlassung von Schutzmaßnahmen oder die Anpassung von bereits auf Basis von Prognosen vorsorglich getroffenen Maßnahmen.

Bei den sonstigen Ereignissen (S5 bis S8) der Referenzszenarien besteht in der Regel keine vergleichbar lange Vorwarnzeit. Die Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Umgebung erfolgt vielmehr innerhalb von kurzer Zeit, ohne dass noch rechtzeitig eine Warnung der gefährdeten Bevölkerung oder die Veranlassung von Notfallschutzmaßnahmen möglich ist. Die luftgetragen freigesetzten Aktivitätsmengen liegen hier allerdings in Bereichen, die erwartungsgemäß um mehrere Zehnerpotenzen niedriger sind als bei schweren Kernkraftwerksunfällen. Dementsprechend werden auch die Gebiete, in denen Notfallschutzmaßnahmen erforderlich sein können, wesentlich kleinräumiger sein. Damit wird in den meisten Fällen (denkbare Ausnahme z. B. drohende Freisetzung von radioaktiven Stoffen bei Brand mit möglichen Auswirkungen auf eine radioaktive Quelle) eine Entscheidung über Schutzmaßnahmen erst nach erfolgtem Durchzug einer Schadstoffwolke und der dadurch verursachten Deposition radioaktiver Partikel auf Boden und anderen Oberflächen erfolgen können.

Eine Erfassung der entstandenen Kontaminationssituation erfolgt auf der Basis von Strahlungsmessungen und Auswertung dieser Messungen im Vergleich mit abgeleiteten Richtwerten, und ist die wesentliche Grundlage für Entscheidungen über Schutzmaßnahmen.

4.2 Die Rolle von abgeleiteten Richtwerten im Rahmen der Schutzstrategie

Die oben beschriebenen zentralen Elemente einer Schutzstrategie werden wie folgt in einem radiologischen Notfall angewandt:

a)
Die Anwendung der Schutzstrategie wird durch ein (potenziell) radiologisch relevantes Ereignis ausgelöst. Dies kann z. B. bei einem Unfall in einer kerntechnischen Anlage eine Meldung oder Alarmierung durch den Betreiber sein, oder auch der Hinweis auf das Vorliegen einer Kontamination oder eine drohende Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Umwelt (z. B. bei einem Transportunfall). Danach erfolgen die im jeweiligen Fall erforderlichen Alarmmaßnahmen (z. B. Alarmierung der zuständigen Behörden, Alarmbereitschaft für Messdienste und Hilfsorganisationen).
b)
Wenn es noch nicht zu einer Freisetzung radioaktiver Stoffe in die umgebende Atmosphäre gekommen ist und die vorliegenden Informationen eine Prognose der zu erwartenden Freisetzung und damit auch der zu erwartenden Dosis für die Bevölkerung über die nächsten Tage erlauben, kann mit Hilfe von Ausbreitungsrechnungen das gefährdete Gebiet ermittelt werden, in dem es voraussichtlich zu einer Überschreitung von Richtwerten der Dosis für Schutzmaßnahmen kommen kann. Wenn keine derartige Prognose möglich ist, kann die Größe des gefährdeten Gebiets, in dem Maßnahmen zur unmittelbaren Gefahrenabwehr aus radiologischer Sicht angemessen sein ­können, meistens nur pauschal festgelegt werden. In der Tendenz abdeckende Größen/Radien des gefährdeten Gebietes sind im Allgemeinen Notfallplan des Bundes für verschiedene Szenarien beschrieben.
c)
Gibt es hingegen schon Hinweise auf eine bereits erfolgte Kontamination von Gebieten, ist eine Verdachtsfläche1 zu bestimmen, in der Notfallschutzmaßnahmen notwendig sein könnten. Diese kann sich beispielsweise gemäß (IAEA 2007) zunächst über einen Bereich von etwa 30 m bis 1 000 m (je nach Gefährdungslage) rund um den Quellort erstrecken.
d)
Es folgt die Eingrenzung des tatsächlich betroffenen Gebietes mit Hilfe von Messungen. Als betroffenes Gebiet werden Flächen bezeichnet, in denen aus radiologischen Gründen Maßnahmen vorbereitet werden oder durchzuführen sind. Es kann sein, dass das so festgelegte betroffene Gebiet größer oder kleiner ist als die zunächst angenommene Verdachtsfläche. Als Kriterium für die Abgrenzung des Teilgebietes, in dem solche Maßnahmen notwendig sind, dienen die in diesem Bericht abgeleiteten Richtwerte.

4.3 Anpassung von abgeleiteten Richtwerten (OILs)

In einer Notfallexpositionssituation und nach dem Übergang zu einer bestehenden Expositionssituation gilt jeweils ein übergeordneter Referenzwert für die verbleibende Dosis pro Jahr. Der Referenzwert für Notfallexpositionssituationen beträgt anfänglich 100 mSv verbleibende, effektive Dosis im ersten Jahr gemäß den Radiologischen Grundlagen (SSK 2014) und dem StrlSchG. Er kann aber im weiteren Verlauf einer Notfallsituation mit der Zielsetzung einer Optimierung herabgesetzt werden. Ungeachtet dessen besteht eine generelle Optimierungspflicht nach § 92 Absatz 3 StrlSchG. Für bestehende Expositionssituationen kann anfänglich ein Referenzwert von maximal 20 mSv verbleibende Dosis pro Jahr festgelegt werden, wobei die Zielsetzung besteht, diesen im zeitlichen Verlauf auf Werte in Richtung 1 mSv pro Jahr effektive Dosis zu reduzieren.

In der frühen Phase einer Bewältigung eines radiologischen Notfalls sind Anpassungen von abgeleiteten Richtwerten nicht zu erwarten. Diese kämen eventuell dann in Frage, wenn sich herausstellen sollte, dass sich wichtige Abweichungen zwischen zur Festlegung eines abgeleiteten Richtwertes getroffenen Annahmen, beispielsweise zur Nuklidzusammensetzung einer Freisetzung, und den beim Notfallereignis vorherrschenden Bedingungen ergeben sollten.

Für abgeleitete Richtwerte für Maßnahmen, die über längere Zeiträume wirksam sind, stellt sich jedoch die Frage einer Anpassung bei veränderten übergeordneten Referenzwerten oder auch aus weiteren Strahlenschutzgründen. Nach Auffassung der SSK besteht dann unverändert die Forderung der Radiologischen Grundlagen, „dass nicht nur die Schutzstrategie insgesamt, sondern auch jede einzelne Schutzmaßnahme gerechtfertigt sein soll, d. h. mit ihr soll mehr Nutzen als Schaden bewirkt werden“. Damit wird deutlich, dass eine spätere Herabsetzung des jeweiligen Referenzwertes für die verbleibende Dosis nicht automatisch zu einer Anpassung von abgeleiteten Richtwerten führen kann. Eine in Betracht gezogene Änderung soll sehr sorgfältig erwogen werden und im Hinblick auf ihre Rechtfertigung und Verhältnismäßigkeit geprüft werden.

Erfolgt eine Anpassung eines abgeleiteten Richtwertes für eine Schutzmaßnahme, so ist darauf zu achten, dass die Änderungen eindeutig und nachvollziehbar begründet und kommuniziert werden.

5 Abgeleitete Richtwerte für Schutzmaßnahmen

Im Folgenden werden die empfohlenen abgeleiteten Richtwerte für eine Reihe von Schutzmaßnahmen erläutert und begründet. Die numerische Bestimmung der abgeleiteten Richtwerte für die einzelnen Maßnahmen erfolgt dabei gemäß den in Nummer 3 dargestellten Schritten. Im Grundsatz bestehen bei der Herleitung von abgeleiteten Richtwerten für die Referenzszenarien keine Unterschiede. Bei der Umsetzung von Schutzmaßnahmen können jedoch Unterschiede in den vorherrschenden Randbedingungen bestehen.

Bei den meisten Ereignissen der Referenzszenarien kann nicht von einer nutzbaren Vorwarnzeit ausgegangen werden, und eine Freisetzung in die umgebende Atmosphäre wird im Allgemeinen von kurzer Dauer sein. Frühe Entscheidungen über Schutzmaßnahmen können dann erst über Messungen und Vergleich mit dem zugehörigen abgeleiteten Richtwert erfolgen.

Die im Folgenden vorgeschlagenen abgeleiteten Richtwerte beziehen sich überwiegend auf die Frühphase nach Eintritt einer Kontaminationssituation. Die einzelnen abgeleiteten Richtwerte für Schutzmaßnahmen und dabei getroffene Festlegungen gemäß Nummer 3 werden in jeweiligen Tabellen zusammengefasst.

5.1 Die Schutzmaßnahmen „Aufforderung zum Aufenthalt in Gebäuden“, „Evakuierung“ und „Aufforderung zur Einnahme von Iodtabletten“

Die Richtwerte der Dosis für diese drei Schutzmaßnahmen sind als „Eingreifrichtwerte“ in den Radiologischen Grundlagen (SSK 2014) und als „Radiologische Kriterien für die Angemessenheit dieser Schutzmaßnahmen“ in der Notfall-Dosiswerte-Verordnung (NDWV 2018) vorgegeben. Sie beziehen sich auf die effektive Dosis bzw. die Schilddrüsendosis, die eine Person infolge der Freisetzung bei einem angenommenen Daueraufenthalt über sieben Tage im Freien erhalten könnte.

5.1.1 Aufforderung zum Aufenthalt in Gebäuden

Für diese Schutzmaßnahme ist als Richtwert der Dosis festgelegt:

10 mSv als Summe aus effektiver Dosis durch äußere Exposition in sieben Tagen und effektiver Folgedosis durch die in diesem Zeitraum inhalierten Radionuklide.

Bei einem durch Beta-/Gammastrahler dominierten Nuklidspektrum sind die Beiträge zur Exposition durch Inhalation nach Resuspension und die unbeabsichtigte Ingestion im Vergleich zur externen Strahlung von auf dem Boden und anderen Oberflächen deponierten Radionukliden sehr gering. Diese Bedingungen liegen bei Unfällen in Kernkraft­werken und ganz überwiegend auch bei den übrigen Referenzszenarien vor. Ausnahmen bilden radiologische Ereignisse mit luftgetragener Freisetzung dominanter Alpha- oder Betastrahlung. Solche Bedingungen sind möglich bei den Referenzszenarien S6 bis S9.

Bei Freisetzung gammastrahlender Radionuklide ist die Messgröße die ODL (µSv h–1), bei Radionukliden mit dominanter Alpha- oder Betastrahlung ist die Messgröße die Boden- bzw. Oberflächenkontamination in der Einheit Bq m–2 oder Bq cm–2.

Bei Ereignissen mit einer luftgetragenen Freisetzung von Radionukliden, bei denen Alpha- oder Betastrahlung dominiert, und dadurch verursachter Kontamination eines Gebietes ist die Anzahl relevanter Radionuklide unter Berücksichtigung eventueller Zerfallsketten begrenzt. Die SSK hat hierzu im Jahre 2015 die Empfehlung „Abgeleitete Richtwerte für Maßnahmen zum Schutz von Personen bei Kontamination der Umwelt mit Alpha- und Betastrahlern“ veröffentlicht (SSK 2015). Darin werden für die Schutzmaßnahme „Aufenthalt in Gebäuden“ nuklidspezifische abgeleitete Richtwerte mit der Messgröße Bq m–2 empfohlen als auch nuklidunabhängig als abgeleiteter Richtwert für Alpha­kontamination bzw. Betakontamination.

Bei den Maßnahmen „Aufenthalt in Gebäuden“ und „Evakuierung“, bei denen die Exposition bei Aufenthalt in kontaminiertem Gebiet durch externe Gammastrahlung dominiert, ergibt sich die Dosis aus dem Zeitintegral der ODL über sieben Tage. Besteht die Kontamination aus Radionukliden mit Halbwertszeiten, die groß sind im Vergleich zu sieben Tagen (entspricht 168 h), so ergibt sich aus dem Richtwert der Dosis von 10 mSv/7d (Aufenthalt in Gebäuden) bzw. 100 mSv/7d (Evakuierung) numerisch unmittelbar ein abgeleiteter Richtwert von 60 µSv h–1 bzw. 600 µSv h–1. In Anhang A5 „Bestimmung des abgeleiteten Richtwertes der ODL für die Maßnahme ‚Evakuierung‘“ werden für schwere Kernkraftwerksunfälle für ein Spektrum von Quelltermen auf Basis probabilistischer Sicherheitsanalysen ­ausführlichere Rechnungen zur zeitlichen Entwicklung der ODL innerhalb eines Zeitraumes von sieben Tagen nach Freisetzung und Deposition behandelt. Dabei führen insbesondere die kurzlebigen Isotope von Iod und Tellur der analysierten Quellterme zu einer Abnahme der ODL über den Zeitraum von sieben Tagen. Im Ergebnis zeigt sich, dass für die Schutzmaßnahme „Aufenthalt in Gebäuden“ ein abgeleiteter Richtwert für die Messgröße ODL von 100 µSv h–1 und für die Maßnahme „Evakuierung“ ein abgeleiteter Richtwert von 1 000 µSv h–1 gerechtfertigt ist.

Dieselben abgeleiteten Richtwerte mit der Messgröße ODL werden von der IAEA (IAEA 2017) für schwere Kernkraftwerksunfälle vorgeschlagen und begründet. Nach Auffassung der SSK ist es aus radiologischer Sicht gerechtfertigt und angemessen, sowohl bei schweren Kernkraftwerksunfällen als auch bei den sonstigen Ereignissen der Referenzszenarien durchgehend als abgeleiteten Richtwert mit der Messgröße ODL den Wert von 100 µSv h–1 für die Maßnahme „Aufenthalt in Gebäuden“ und von 1 000 µSv h–1 für die Maßnahme „Evakuierung“ zu verwenden. Bei einer Kontaminationssituation mit langlebigen Radionukliden im Vergleich zum Bezugszeitraum von sieben Tagen bedeutet dies eine Aufrundung des abgeleiteten Richtwertes zur nächsten Zehnerpotenz. Eine eventuelle radionuklidabhängige Abstufung wäre nicht zielführend aus Gründen der Praktikabilität und einer konsistenten Verfahrensweise bei diesen Schutzmaßnahmen. Die abgeleiteten Richtwerte werden auch als Startwerte für frühzeitige Maßnahmenentscheidungen bezeichnet, die im Zuge einer Optimierung von Schutzmaßnahmen angepasst werden können.

Tabelle 5.1a:

Festlegungen zum abgeleiteten Richtwert für die Maßnahme „Aufforderung zum Aufenthalt in Gebäuden“ bei Verwendung der Messgröße ODL

Maßnahme Aufenthalt in Gebäuden
Richtwert der Dosis Eingreifrichtwert 10 mSv effektive Dosis in sieben Tagen, angenommener Dauer­aufenthalt im Freien
Messgröße ODL in ca. 1 m Höhe über der kontaminierten Fläche
Expositionspfade Externe Strahlung von kontaminierten Oberflächen, insbesondere Boden
Inhalation nach Resuspension
Unbeabsichtigte Ingestion
Modellierung Expositionspfade Bezieht sich auf Notfallszenarien mit dominierender Gammastrahlung, Berücksichtigung der zeitlichen Entwicklung der ODL in sieben Tagen für repräsentative Nuklidzusammensetzung bei verschiedenen Kernkraftwerksunfällen, Daueraufenthalt im Freien. Externe Strahlung dominiert.
Abgeleiteter Richtwert 100 µSv h-1
Hinweise Die gemessene ODL bezieht sich auf mittlere Werte in Aufenthaltsbereichen von Personen im Freien. Dieser abgeleitete Richtwert (OIL-Wert) wird auch von der IAEA (IAEA 2017) bei Kernkraftwerksunfällen empfohlen. Der abgeleitete Richtwert von 100 µSv h–1 ist auch bei den sonstigen Ereignissen mit dominanter Gammastrahlung durch Radionuklide mit größeren Halbwertzeiten im Vergleich zur Bezugszeit von sieben Tagen als Startwert geeignet.

Tabelle 5.1b:

Festlegungen zum abgeleiteten Richtwert für die Maßnahme „Aufforderung zum Aufenthalt in Gebäuden“ bei Verwendung der Messgröße „Bodenkontamination“

Maßnahme Aufenthalt in Gebäuden
Richtwert der Dosis Eingreifrichtwert 10 mSv effektive Dosis in sieben Tagen, angenommener Dauer­aufenthalt im Freien
Messgröße Bodenkontamination in Bq m–2
Expositionspfade Externe Strahlung
Inhalation nach Resuspension
Unbeabsichtigte Ingestion
Modellierung Expositionspfade Alpha- oder Betastrahlung dominiert
Abgeleiteter Richtwert 106 Bq m–2 Alpha
107 Bq m–2 Beta
Hinweise Diese Werte sind aus „Abgeleitete Richtwerte für Maßnahmen zum Schutz von Personen bei Kontaminationen der Umwelt mit Alpha- und Betastrahlern“ (SSK 2015) übernommen.

5.1.2 Aufforderung zur Einnahme von Iodtabletten

Für diese Schutzmaßnahme ist als Richtwert der Dosis festgelegt:

50 mSv Schilddrüsendosis (Organfolgedosis) bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren sowie Schwangeren und von 250 mSv bei Personen ab 18 Jahren bis 45 Jahren durch das im Zeitraum von sieben Tagen über Inhalation aufgenommene Radioiod.

Durch die Schutzmaßnahme „Aufforderung zur Einnahme von Iodtabletten“ soll die Aufnahme von radioaktivem Iod in die Schilddrüse durch eine rechtzeitige Einnahme von stabilem Iod in hoher Dosierung verhindert oder stark vermindert werden. Am wirksamsten ist die Maßnahme, wenn das stabile Iod im Organismus vor der Aufnahme des radioaktiven Iods vorhanden ist (SSK 2018, www.Iodblockade.de).

Die Bestimmung eines abgeleiteten Richtwertes auf Basis von Messungen, z. B. der ODL, nach erfolgter Kontamination durch eine vorbeigezogene Schadstoffwolke ist daher nicht sinnvoll, da zum notwendigen Einnahmezeitpunkt keine Messungen vorliegen können.

5.1.3 Evakuierung

Für diese Schutzmaßnahme ist als Richtwert der Dosis festgelegt:

100 mSv als Summe aus effektiver Dosis durch äußere Exposition in sieben Tagen und effektiver Folgedosis durch die in diesem Zeitraum inhalierten Radionuklide.

Der Richtwert der Dosis (Eingreifrichtwert) für die Schutzmaßnahme Evakuierung ist zehnfach höher als für die Maßnahme „Aufforderung zum Aufenthalt in Gebäuden“. Alle anderen Bedingungen und dazu in Nummer 5.1.1 gemachte Ausführungen gelten auch hier. Dem entsprechend sind auch die empfohlenen abgeleiteten Richtwerte der ODL und für dominante Alpha- oder Betastrahlung um einen Faktor 10 höher.

Im Ergebnis zeigt sich, dass für die Schutzmaßnahme „Evakuierung“ ein abgeleiteter Richtwert für die Messgröße ODL von 1 000 µSv h–1 gerechtfertigt ist.

Derselbe abgeleitete Richtwert wird von der IAEA (IAEA 2017) für die Schutzmaßnahme „Evakuierung“ bei schweren Kernkraftwerksunfälle vorgeschlagen und begründet.

Die Festlegung der abgeleiteten Richtwerte ist in den Tabellen 5.2a und 5.2b dokumentiert.

Tabelle 5.2a:

Festlegungen zum abgeleiteten Richtwert für die Maßnahme „Evakuierung“ bei Verwendung der Messgröße ODL

Maßnahme Evakuierung
Richtwert der Dosis Eingreifrichtwert 100 mSv effektive Dosis in sieben Tagen, angenommener Dauer­aufenthalt im Freien
Messgröße ODL in ca. 1 m Höhe über der kontaminierten Fläche
Expositionspfade Externe Strahlung von kontaminierten Oberflächen, insbesondere Boden
Inhalation nach Resuspension
Unbeabsichtigte Ingestion
Modellierung Expositionspfade Bezieht sich auf Notfallszenarien mit dominierender Gammastrahlung, Berücksichtigung der zeitlichen Entwicklung der ODL in sieben Tagen für repräsentative Nuklidzusammensetzung bei verschiedenen Kernkraftwerksunfällen, Daueraufenthalt im Freien. Externe Strahlung dominiert.
Abgeleiteter Richtwert 1 000 µSv h–1
Hinweise Die gemessene ODL bezieht sich auf mittlere Werte in Aufenthaltsbereichen von Personen im Freien. Dieser Wert wird auch von der IAEA (IAEA 2017) empfohlen. Bei anderen Freisetzungsereignissen als schwere Kernkraftwerksunfälle sind so hohe ODL-Werte sehr unwahrscheinlich.

Tabelle 5.2b:

Festlegungen zum abgeleiteten Richtwert für die Maßnahme „Evakuierung“ bei Verwendung der Messgröße „Bodenkontamination“

Maßnahme Evakuierung
Richtwert der Dosis Eingreifrichtwert 100 mSv effektive Dosis in sieben Tagen, angenommener Dauer­aufenthalt im Freien
Messgröße Bodenkontamination in Bq m–2
Expositionspfade Externe Strahlung
Inhalation nach Resuspension
Unbeabsichtigte Ingestion
Modellierung Expositionspfade Alpha- oder Betastrahlung dominiert
Abgeleiteter Richtwert 107 Bq m–2 Alpha
108 Bq m–2 Beta
Hinweise So hohe Kontaminationen durch luftgetragene und dann deponierte Alpha- oder Betastrahlung sind sehr unwahrscheinlich.

5.2 Die Schutzmaßnahme „Abgrenzung eines radiologischen Gefahrenbereiches“ bei sonstigen Ereignissen

Bei den meisten Freisetzungsereignissen der Referenzszenarien S6 bis S8 ist aufgrund der zu erwartenden wesentlich geringeren Freisetzungsmengen mit radiologischen Auswirkungen zu rechnen, die auf kleinere Gebiete beschränkt sind. Etablierte Schutzmaßnahme für die Bevölkerung ist dann „Aufforderung zum Aufenthalt in Gebäuden“, falls Messungen eine Überschreitung des abgeleiteten Richtwertes für diese Maßnahme für ein betroffenes Gebiet er­geben. Weiterhin erfolgt in der Regel durch Einsatzpersonal eine prophylaktische und möglichst bald auf Messungen basierte Abgrenzung eines „radiologischen Gefahrenbereiches“ (siehe auch Nummer 2.3). Die Einrichtung und Abgrenzung eines radiologischen Gefahrenbereiches soll eine möglichst schnelle Erfassung der entstandenen Gefährdung, die Kontrolle der entstandenen Strahlungssituation und die Gefahrenabwehr unterstützen.

Als Richtwert der Dosis für die Abgrenzung eines radiologischen Gefahrenbereiches wird derselbe Richtwert der Dosis wie für die Maßnahme „Aufforderung zum Aufenthalt in Gebäuden“ vorgeschlagen:

10 mSv als Summe aus effektiver Dosis durch äußere Exposition in sieben Tagen und effektiver Folgedosis durch die in diesem Zeitraum inhalierten Radionuklide.

Die Abgrenzung eines radiologischen Gefahrenbereiches über diesen Richtwert der Dosis bedeutet im Falle von ­dominierender externer Strahlung durch Gammastrahler eine Dosisleistung bis zu 100 µSv h-1 an der Außengrenze entsprechend dem in Tabelle 5.1a empfohlenen abgeleiteten Richtwert. Das bedeutet auch für Einsatzpersonal, das im radiologischen Gefahrenbereich tätig wird, eine hinreichend begrenzte Exposition, auch weil lange Einsatzzeiten im radiologischen Gefahrenbereich unwahrscheinlich sind und tatsächlich vorliegende Ortsdosisleistungen einfach messbar und kontrollierbar sind.

Im außergewöhnlichen Fall einer Kontaminationssituation mit dominierender Alpha- oder Betastrahlung wären für die Abgrenzung des radiologischen Gefahrenbereiches die Kontaminationswerte der Tabelle 5.1b anzuwenden:

Aus systematischen Gründen werden zwei Tabellen 5.3a und 5.3b erstellt, die diese Empfehlungen für die Maßnahme „Abgrenzung eines radiologischen Gefahrenbereiches“ zusammenfassen, ansonsten aber mit den beiden ­Tabellen 5.1a und 5.1b für die Maßnahme „Aufforderung zum Aufenthalt in Gebäuden“ aufgrund desselben Richtwertes der Dosis übereinstimmen.

Tabelle 5.3a:

Festlegungen zum abgeleiteten Richtwert für die Maßnahme „Abgrenzung eines radiologischen Gefahrenbereiches“ bei Verwendung der Messgröße ODL

Maßnahme Abgrenzung eines radiologischen Gefahrenbereiches
Richtwert der Dosis 10 mSv effektive Dosis in sieben Tagen, angenommener Daueraufenthalt im radiologischen Gefahrenbereich
Messgröße ODL in ca. 1 m Höhe über der kontaminierten Fläche
Expositionspfade Externe Strahlung von kontaminierten Oberflächen, insbesondere Boden
Inhalation nach Resuspension
Unbeabsichtigte Ingestion
Modellierung Expositionspfade Notfallszenarien mit dominierender Gammastrahlung, Daueraufenthalt im Freien. Externe Strahlung dominiert.
Abgeleiteter Richtwert 100 µSv h–1
Hinweise Die an der äußeren Begrenzung des radiologischen Gefahrenbereiches gemessene ODL soll 100 µSv h–1 unterschreiten. Für längerlebige Gammastrahler stellt der abgeleitete Richtwert einen zur nächsten Zehnerpotenz aufgerundeten Wert dar.

Tabelle 5.3b:

Festlegungen zum abgeleiteten Richtwert für die Maßnahme „Abgrenzung eines radiologischen Gefahrenbereiches“ bei Verwendung der Messgröße „Bodenkontamination“

Maßnahme Abgrenzung eines radiologischen Gefahrenbereiches
Richtwert der Dosis 10 mSv effektive Dosis in sieben Tagen, angenommener Daueraufenthalt im Gefährdungsbereich
Messgröße Bodenkontamination in Bq m–2
Expositionspfade Externe Strahlung
Inhalation nach Resuspension
Unbeabsichtigte Ingestion
Modellierung Expositionspfade Alpha- oder Betastrahlung dominiert
Abgeleiteter Richtwert 106 Bq m–2 Alpha
107 Bq m–2 Beta
Hinweise Die an der äußeren Begrenzung des radiologischen Gefahrenbereiches gemessene Kontamination durch dominierende Alpha- oder Betastrahlung soll die abgeleiteten Richtwerte unterschreiten. Diese Werte sind aus „Abgeleitete Richtwerte für Maßnahmen zum Schutz von Personen bei Kontaminationen der Umwelt mit Alpha- und Betastrahlern“ (SSK 2015) übernommen. So hohe Kontaminationswerte ohne nennenswerte Gammastrahlung sind sehr unwahrscheinlich.

5.3 Abgeleitete Richtwerte für Kontaminationskontrollen/Dekontamination beim Verlassen eines radiologischen ­Gefahrenbereiches bei sonstigen Ereignissen

Bei den sonstigen Referenzszenarien S6 bis S8 kann erwartet werden, dass signifikant kontaminierte Gebiete sich im Bereich von einigen 100 m und unter ungünstigen Bedingungen bis zu wenigen km in Ausbreitungsrichtung aus­dehnen. Unter diesen Bedingungen werden Einsatzorganisationen und Rettungsdienste in Verbindung mit den zuständigen Behörden einen radiologischen Gefahrenbereich abgrenzen und einen daran angrenzenden Absperrbereich einrichten. Der Absperrbereich dient dabei als Aufstell-, Bewegungs- und Bereitstellungfläche der Einsatzkräfte. In der Regel wird weiterhin ein Dekontaminationsplatz außerhalb des radiologischen Gefahrenbereiches eingerichtet, an dem eine Kontaminationskontrolle und bei Überschreitung eines definierten Kontaminationsniveaus bei Personen und Gegenständen eine Dekontamination erfolgen kann. Für die Kontaminationskontrolle und der darauf basierten Entscheidung über das Erfordernis einer Dekontamination von Personen und Gegenständen ist entsprechend den in Nummer 3 diskutierten Schritten ein abgeleiteter Richtwert erforderlich, der auf einem Richtwert der Dosis während eines Bezugszeitraumes basiert und sich auf eine geeignete Messgröße bezieht.

5.3.1 Kontaminationskontrollen/Dekontamination von Gegenständen

Als Richtwert der Dosis wird hier eine Exposition von 1 mSv effektive Dosis pro Jahr vorgeschlagen, die sich für Personen der allgemeinen Bevölkerung oder für Einsatzpersonal durch kontaminierte Oberflächen von Gegenständen nach Verlassen des radiologischen Gefahrenbereiches ergeben könnte. Die primäre Messgröße ist die flächen­bezogene nuklidspezifische Aktivitätskonzentration in Bq cm-2. Bei einer durch gammastrahlende Radionuklide ­dominierten Kontamination von Oberflächen kann die Kontaminationskontrolle auch über die ODL im Nahbereich von Gegenständen erfolgen.

Die maßgeblichen Expositionspfade durch kontaminierte Oberflächen nach Verlassen des radiologischen Gefahrenbereiches während einer Folgezeit von einem Jahr sind hier ebenfalls:

Externe Exposition durch auf Oberflächen von Gegenständen abgelagerte Radionuklide
Inhalation von durch Resuspensionsprozesse von kontaminierten Oberflächen (auch Kleidung) luftgetragene radioaktive Stoffe
Unbeabsichtigte Ingestion von auf Oberflächen als Folge des Ereignisses resultierender Kontamination mit Radionukliden.

Diese Expositionspfade liegen auch den nuklidspezifischen Werten der Oberflächenkontamination der Anlage 4 ­Tabelle 1 Spalte 5 der Strahlenschutzverordnung (StrlSchV 2018) zugrunde. Die in Verbindung mit Freigrenzen ­ermittelten Kontaminationswerte basieren auf einer Exposition von Personen bei der Handhabung kontaminierter Gegenstände mit einer auf ein Jahr bezogenen effektiven Dosis von 10 µSv. Die Kontaminationswerte mit dem Dosiskriterium 10 µSv a–1 beziehen sich auf kontaminierte Gegenstände aus geplanten Tätigkeiten. Dieses Kriterium ist aus Sicht der SSK als Richtwert der Dosis im Falle eines radiologischen Notfalles für die Kontaminationskontrolle beim Verlassen eines radiologischen Gefahrenbereiches nicht geeignet. Es ist deutlich zu restriktiv und darauf gegründete Maßnahmen wären aus Sicht des Strahlenschutzes nicht gerechtfertigt und nicht verhältnismäßig. Auch in ihrer ­Stellungnahme „Beratungsergebnisse des SSK-Krisenstabs zu den Auswirkungen des Reaktorunfalls von Fukushima auf die Situation in Deutschland in Bezug auf kontaminierte Schiffe, Fracht und Waren“ (SSK 2011) hat sich die SSK bei der Kontaminationskontrolle für das Dosiskriterium einer verbleibenden, effektiven Dosis von 1 Millisievert pro Jahr ausgesprochen.

Ausgehend von den auf 10 µSv a–1 effektive Dosis basierten nuklidspezifischen Kontaminationswerten werden daher 100-fach höhere Werte als abgeleitete Richtwerte für eine Kontaminationskontrolle und damit für die Entscheidung über eine erforderliche Dekontamination verwendet. Die Ableitung der Kontaminationswerte der Anlage 4 Tabelle 1 Spalte 5 StrlSchV (StrlSchV 2018) und die dabei verwendeten Expositionsmodelle und Parameter sind in „Radiolo­gische Bewertung einer Kontamination: Entscheidungshilfe zur Festlegung von flächenbezogenen Freigabewerten“ ­(Deckert et al. 2000) dokumentiert. Die dabei zugrundeliegende Expositionsmodellierung und die verwendeten Parameterwerte können als konservativ eingestuft werden und stellen eine adäquate Basis für die hier vorgeschlagenen abgeleiteten Richtwerte der Kontaminationskontrolle von Gegenständen wie Gerätschaften, Fahrzeugen etc. beim Verlassen des radiologischen Gefahrenbereiches dar.

Bei einer Kontaminationskontrolle mit Kontaminationsmessgeräten sind häufig die beitragenden Radionuklide nicht bekannt. Angezeigt wird eine Impulsrate, die bei Kenntnis eines jeweiligen Kalibrierfaktors für gängige Alphastrahler oder Betastrahler in die Einheit Bq cm–2 vom Messgerät umgewandelt werden kann. Zur Umrechnung von Impulsen pro Sekunde in die flächenbezogene Aktivität in Bq cm–2 können für diese Messung die Herstellerangaben für ­Kalibrierfaktoren für Gesamt-Alpha oder Gesamt-Beta verwendet werden. Für die Zwecke einer Kontaminationsüberprüfung ist es auch ausreichend, einen Kalibrierfaktor für ein geeignetes Ersatznuklid wie z. B. Am-241 für Alphastrahler oder Cl-36 für Betastrahler zu verwenden. Daher werden auch abdeckende Richtwerte für Gesamt-Alpha, Gesamt-Beta und Gesamt-Gamma angegeben.

5.3.2 Kontaminationskontrollen/Dekontamination von Personen

Personen, die sich bei einem Ereignis mit luftgetragener Freisetzung radioaktiver Stoffe im gefährdeten Gebiet aufgehalten haben, können beim Vorbeizug der Schadstofffahne durch trocken oder nass (Niederschlag) abgelagerte radioaktive Stoffe auf Haut und Kleidung kontaminiert werden. Auch bei dort zur Gefahrenabwehr tätigem Einsatzpersonal kann eine Kontamination von Haut und Kleidung erfolgen. Solange eine Kontamination der Haut besteht, kann dadurch eine Exposition der strahlungsempfindlichen Erneuerungsschicht der Haut resultieren. Dosisbestimmend ist hierbei Betastrahlung. Alphateilchen haben eine so geringe Eindringtiefe, dass es bei Kontamination in der Regel zu keiner relevanten Dosis kommt. Nur im Fall sehr hochenergetischer Alphastrahler kann auch die strahlenempfindliche Hautschicht erreicht werden.

Als Richtwert der Dosis als Folge einer Hautkontamination bei einem Freisetzungsereignis wird 50 mSv Hautdosis vorgeschlagen. Dieser Richtwert dient als Entscheidungskriterium für die Auslösung der Personendekontamination. Er ist eingehender in (SSK 2015) diskutiert worden. Aus Gründen der Praktikabilität bei einer Kontaminations­überprüfung mit einem Kontaminationsmessgerät werden als abgeleitete Richtwerte der Flächenkontamination in der Einheit Bq cm–2 keine nuklidspezifischen Werte, sondern nur Werte für Gesamt-Alpha-, Gesamt-Beta- und ­Gesamt-Gammastrahlung angegeben. Die meisten dieser Messgeräte geben für die Umrechnung von Impulsen pro Sekunde (ips) in Bq cm–2 Kalibierfaktoren für Gesamt-Beta und Gesamt-Alpha an.

Die Vorgehensweise bei der Bestimmung von abgeleiteten Richtwerten für die Kontaminationsüberprüfung von Haut und Kleidung entspricht im Wesentlichen (SSK 2015) und wird im Anhang A-1 kurz skizziert.

Tabelle 5.4:

Festlegungen zum abgeleiteten Richtwert für die Maßnahme „Kontaminationskontrolle von Gegenständen beim Verlassen eines radiologischen Gefahrenbereiches“ bei Verwendung der Messgröße „Oberflächenkontamination“

Maßnahmen Kontaminationskontrolle/Dekontamination von Gegenständen bei Verlassen des radiologischen Gefahrenbereiches
Richtwert der Dosis 1 mSv effektive Dosis im Jahr
Messgröße Oberflächenkontamination einer kontaminierten Fläche
Expositionspfade Externe Strahlung
Inhalation nach Resuspension
Unbeabsichtigte Ingestion
Modellierung Expositionspfade Modellierung gemäß Verfahrensweise bei Ableitung der Kontaminationswerte Anlage 4, Tabelle 1 Spalte 5 StrlSchV (2018) für Gegenstände
Abgeleiteter Richtwert 100-fache Kontaminationswerte Anlage 4, Tabelle 1 Spalte 5 StrlSchV (2018) für Gegenstände
Gesamt-Alpha 10 Bq cm–2
Gesamt-Beta 100 Bq cm–2
Gesamt-Gamma 100 Bq cm–2
Hinweise Bei Gammastrahlung kann der Nachweis mit Kontaminationsmessgerät meist empfindlicher über begleitende Betastrahlung erfolgen.

Tabelle 5.5:

Festlegungen zum abgeleiteten Richtwert für die Maßnahme „Kontaminationskontrolle von Personen beim Verlassen eines radiologischen Gefahrenbereiches“ bei Verwendung der Messgröße „Oberflächenkontamination auf Haut und Kleidung“

Maßnahmen Kontaminationskontrolle/Dekontamination von Personen bei Verlassen des radiolo­gischen Gefahrenbereiches
Richtwert der Dosis 50 mSv Hautdosis in der Folgezeit durch die Kontamination
Messgröße Oberflächenkontamination von Haut und Kleidung
Expositionspfade Hautdosis durch Kontamination
Modellierung Expositionspfade Modellierung gemäß Verfahrensweise in SSK-Empfehlung „Abgeleitete Richtwerte für Maßnahmen zum Schutz von Personen bei Kontaminationen der Umwelt mit Alpha- und Betastrahlern“
Abgeleiteter Richtwert Gesamt-Alpha 10 Bq cm–2
Gesamt-Beta 100 Bq cm–2
Gesamt-Gamma 100 Bq cm–2
Hinweise Bei Gammastrahlung kann der Nachweis mit Kontaminationsmessgerät meist empfindlicher über begleitende Betastrahlung erfolgen.

5.4 Abgeleitete Richtwerte für Kontaminationskontrollen von Personen und von Gegenständen, Fahrzeugen und Waren beim Übergang zwischen Gebieten.

Bestandteil einer Schutzstrategie für die Bewältigung einer infolge von Ereignissen der Referenzszenarien entstandenen Kontaminationssituation kann auch die Einrichtung von Gebietsgrenzen sein, an denen Kontaminationskontrollen stichprobenartig oder systematisch durchgeführt werden. Kontaminationskontrollen können sich auf Haut und ­Kleidung von Personen oder auf Oberflächen von Gegenständen wie Fahrzeuge oder Waren beziehen. Kontamina­tionskontrollen dienen dem Eigenschutz kontaminierter Personen und einer Expositionsbegrenzung aus dem Umgang mit kontaminierten Gegenständen. Die Maßnahme soll auch eine Verbreitung von Kontamination in vorher geringer oder gar nicht betroffene Gebiete begrenzen.

Es ist darauf hinzuweisen, dass neben Kontaminationskontrollen an Gebietsgrenzen auch durch andere Maßnahmen eine Begrenzung der Exposition von Personen erreicht werden kann. Dazu zählt insbesondere die Einführung von Höchstwerten der Radioaktivität in Lebens- und Futtermitteln. Die Einhaltung dieser Höchstwerte obliegt dem Inverkehrbringer.

Für die Festlegung von abgeleiteten Richtwerten zur Anwendung bei Kontaminationskontrollen beim Übergang von Gebieten werden dieselben abgeleiteten Richtwerte wie für Kontaminationskontrollen von Gegenständen bzw. Personen beim Übergang aus einem radiologischen Gefahrenbereich empfohlen.

5.4.1 Abgeleitete Richtwerte für Kontaminationskontrollen von Gegenständen und gegebenenfalls Dekontamina­tionsmaßnahmen

Diese Werte für Gegenstände basieren auf einem Richtwert der Dosis von 1 mSv effektive Dosis pro Jahr, die sich durch den Umgang mit kontaminierten Gegenständen unter pessimistischen Annahmen ergeben könnte. Die Messgröße der Kontamination hat die Einheit Bq cm–2. Die nuklidspezifischen abgeleiteten Richtwerte der Kontamination entsprechen den 100-fachen Kontaminationswerten der Anlage 4 Tabelle 1 Spalte 5 StrlSchV (StrlSchV 2018). ­Zusätzlich werden Kontaminationswerte für Gesamt-Alpha, Gesamt-Beta und Gesamt-Gamma angegeben.

Eine Kontaminationsprüfung auf Unterschreitung dieser Werte ist in der Regel messtechnisch gut durchführbar und kann für gammastrahlende Radionuklide auch durch Überprüfung der ODL im Nahbereich der Gegenstände erfolgen.

Der Richtwert der effektiven Dosis von 1 mSv a–1 als Entscheidungskriterium für ungehinderten Übergang oder das Erfordernis einer Dekontamination wird als ausgewogen angesehen. Das mit einer möglichen notfallbedingten effektiven Dosis von 1 mSv pro Jahr verbundene gesundheitliche Risiko wird dabei den Nachteilen einer Zurückweisung oder eines höheren Dekontaminationsaufwandes gegenübergestellt.

Durch die Festlegung eines einheitlichen Richtwertes der Dosis auf diesem gesundheitlich niedrigen Risikoniveau werden zudem gebietsabhängige Kontaminationskriterien beim Übergang zwischen in Nummer 2.4 aufgeführten ­Gebieten eines Staates vermieden.

In Tabelle 5.6 ist die Bestimmung der abgeleiteten Richtwerte für Kontaminationskontrollen von Gegenständen beim Übergang zwischen Gebieten zusammengefasst.

5.4.2 Abgeleitete Richtwerte für Kontaminationskontrollen/Dekontamination von Personen

Diese Werte für Kontaminationskontrollen von Personen basieren auf einem Richtwert der Organ-Äquivalentdosis der Haut von 50 mSv, die als Folge einer Kontamination von Kleidung und Haut durch das Freisetzungsereignis resultieren kann. Eine Kontaminationskontrolle erfolgt meist durch Kontaminationsmessgeräte. Aus praktischen Gründen werden in Tabelle 5.7 abgeleitete Richtwerte mit der Einheit Bq cm–2 für Gesamt-Alpha, Gesamt-Beta und Gesamt-Gamma angegeben.

Tabelle 5.6:

Festlegungen zum abgeleiteten Richtwert für die Maßnahme „Kontaminationskontrollen von Gegenständen, Fahr­zeugen und Waren beim Übergang zwischen Gebieten“ bei Verwendung der Messgröße „Oberflächenkontamination“

Maßnahmen Kontaminationskontrolle/Dekontamination beim Übergang zwischen Gebieten (für Gegenstände, Fahrzeuge, Waren)
Richtwert der Dosis 1 mSv effektive Dosis im Jahr
Messgröße Oberflächenkontamination Bq cm–2
Expositionspfade Externe Strahlung
Inhalation nach Resuspension
Unbeabsichtigte Ingestion
Modellierung Expositionspfade Modellierung gemäß Verfahrensweise bei Ableitung der Kontaminationswerte Anlage 4, Tabelle 1 Spalte 5 StrlSchV (2018)
Abgeleiteter Richtwert 100-fache Kontaminationswerte Anlage 4, Tabelle 1 Spalte 5 StrlSchV (2018), Messung mit Kontaminationsmessgerät
oder
Gesamt-Alpha 10 Bq cm–2
Gesamt-Beta 100 Bq cm–2
Gesamt-Gamma 100 Bq cm–2
Hinweise Bei Gammastrahlung kann der Nachweis mit Kontaminationsmessgerät meist empfindlicher über begleitende Betastrahlung erfolgen.

Tabelle 5.7:

Festlegungen zum abgeleiteten Richtwert für die Maßnahme „Kontaminationskontrolle/Dekontamination von Personen beim Übergang zwischen Gebieten“ bei Verwendung der Messgröße „Oberflächenkontamination auf Haut und Kleidung“

Maßnahmen Kontaminationskontrolle/Dekontamination von Personen beim Übergang zwischen Gebieten
Richtwert der Dosis 50 mSv Hautdosis durch die Kontamination
Messgröße Oberflächenkontamination von Haut und Kleidung
Expositionspfade Hautdosis durch Kontamination
Modellierung Expositionspfade Modellierung gemäß Verfahrensweise in SSK-Empfehlung „Abgeleitete Richtwerte für Maßnahmen zum Schutz von Personen bei Kontaminationen der Umwelt mit Alpha- und Betastrahlern“
Abgeleiteter Richtwert Gesamt-Alpha 10 Bq cm–2
Gesamt-Beta 100 Bq cm–2
Gesamt-Gamma 100 Bq cm–2
Hinweise Bei Gammastrahlung kann der Nachweis mit Kontaminationsmessgerät meist empfindlicher über begleitende Betastrahlung erfolgen.

5.5 Schutzmaßnahmen für landwirtschaftliche Produktion und Lebensmittel

5.5.1 Landwirtschaftliches Maßnahmenpaket

Bei radiologischen Unfällen können Gebiete so hoch kontaminiert werden, dass zur Vermeidung erhöhter Aktivitätsaufnahmen der Bevölkerung über die Nahrung frühzeitig Schutzmaßnahmen ergriffen werden sollten. Dazu zählen vor allem die landwirtschaftlichen Maßnahmen „Empfehlung zum Verzicht des Verzehrs frisch geernteter Lebensmittel“, „Auf Ernte verzichten (Verschieben der Ernte)“, „Vieh nicht weiden lassen und nicht mit frisch geernteten Futtermitteln versorgen“, „Oberflächenwasser nicht als Viehtränke und nicht zur Bewässerung von Anbaukulturen verwenden“. Insbesondere bei schweren Kernkraftwerksunfällen können in größeren Gebieten solche Kontaminationssituationen auftreten. Empfehlungen zum Ergreifen dieser Maßnahmen in Gebieten können zwar vorsorglich vor Beginn einer größeren Freisetzung aufgrund von verfügbaren Prognosen ausgesprochen werden. Sie werden aber besser fundiert sein, wenn die Gebiete, für die diese Maßnahmen empfohlen werden, durch Messungen der eingetretenen Kontaminationssituation identifiziert worden sind, so dass dann die vorsorglichen Empfehlungen der realen Situation angepasst werden können. Dazu sind Messungen der ODL (µSv h–1) erforderlich, wobei schnell verfügbare Messungen durch das über Deutschland flächenddeckend verteilte ODL-Messnetz des Bundesamtes für Strahlenschutz eine wichtige Rolle spielen. Die Messwerte sind auch jederzeit öffentlich einsehbar (https://odlinfo.bfs.de). Zusätzlich ­werden mobile ODL-Messungen Maßnahmenentscheidungen unterstützen.

Das Ziel dieser im landwirtschaftlichen Maßnahmenpaket zusammengefassten Schutzmaßnahmen ist, möglichst frühzeitig nach Eintritt einer Kontaminationssituation Gegenmaßnahmen zu veranlassen. Dazu zählen Maßnahmen, um die Produktion und Verwendung kontaminierter pflanzlicher Lebens- und Futtermittel zu vermeiden oder zumindest zu vermindern. Weiterhin soll die Bevölkerung zeitnah vor dem Verzehr frisch geernteter und noch nicht überprüfter Lebensmittel gewarnt werden, um dadurch erhöhte Aktivitätsaufnahmen mit der Nahrung zu mindern. Bei diesem Maßnahmenpaket steht dessen schnelle Umsetzung durch früh verfügbare Messungen der ODL in beaufschlagten Gebieten im Vordergrund. Über Annahmen oder Messungen der Nuklidzusammensetzung freigesetzter radioaktiver Stoffe, lässt sich die gemessene Ortsdosisleistung (µSv h–1) unmittelbar in nuklidspezifische Oberflächenkontamination von Boden und Bewuchs umrechnen.

Die Messgröße des abgeleiteten Richtwertes für das landwirtschaftliche Maßnahmenpaket ist die ODL (µSv h–1) durch auf Bewuchs und Boden über trockene oder nasse Deposition abgelagerte Radionuklide nach Freisetzung in die Atmosphäre. Bei der Messung der ODL ist darauf zu achten, dass dabei für landwirtschaftlich genutzte Flächen repräsentative Werte ermittelt werden (z. B. durch Messung der ODL über Wiesen- oder Rasenflächen in der Nähe von landwirtschaftlich genutzten Flächen). Dies bedeutet auch, dass eine lediglich kleinräumige oder punktuelle ­Überschreitung des abgeleiteten Richtwertes noch nicht ausreichend für die Empfehlung des landwirtschaftlichen Maßnahmenpakets ist.

Die Modellierung der Exposition von Personen über die Aufnahme kontaminierter Lebensmittel besteht aus zwei Modulen:

Mit anspruchsvollen radioökologischen Modellen werden, ausgehend von den in die Atmosphäre freigesetzten und auf Bewuchs und Boden abgelagerten Radionukliden, Voraussagen über die erwartbare Aktivitätskonzentration (Bq kg–1) der beteiligten Radionuklide und deren weitere zeitliche Entwicklung in Lebensmitteln ermittelt. Dabei sind eine Vielzahl radioökologischer Einflussgrößen und deren Variabilität adäquat zu berücksichtigen.
Die Modellierung der Exposition über Ingestion kontaminierter Lebensmittel während eines Jahres beinhaltet Annahmen zu den Verzehrsgewohnheiten repräsentativer Personen und deren strahlenbiologischen Eigenschaften, die beispielsweise mit Dosiskoeffizienten erfasst werden. Weiterhin sind Annahmen zu treffen, welcher Anteil der eingenommenen Lebensmittel kontaminiert ist und welcher nicht.

Über den Vergleich mit dem für das landwirtschaftliche Maßnahmenpaket verwendeten Richtwert der Dosis wird der abgeleitete Richtwert für diese Maßnahme als ODL-Messwert (µSv h–1) bestimmt. Die SSK folgt hierbei der Vor­gehensweise in dem IAEA-Bericht (IAEA 2017). Darin wird für die typische Nuklidzusammensetzung von Quelltermen bei schweren Kernkraftwerksunfällen unter Verwendung eines Richtwertes der Dosis von 10 mSv effektive Dosis im Jahr ein abgeleiteter Richtwert (OIL) der ODL von 1 µSv h–1 ermittelt (unter der Annahme, dass 50 % der konsumierten Nahrung kontaminiert sind). In Gebieten, in denen diese Ortdosisleistung überschritten ist, soll aus radiologischer Sicht das landwirtschaftliche Maßnahmenpaket umgesetzt werden.

Es ist darauf hinzuweisen, dass der gewählte Richtwert der Dosis von 10 mSv pro Jahr in Verbindung mit den ­Methoden und Annahmen der oben skizzierten Modellierung zur Bestimmung des zugehörigen abgeleiteten Richtwertes der ODL steht. Ein Richtwert von 10 mSv effektive Dosis pro Jahr ist aus Sicht des Strahlenschutzes durchaus gerechtfertigt. Seine Einstufung ist jedoch in enger Beziehung zur Modellierung bei der Ermittlung des abgeleiteten Richtwertes zu bewerten. Die Modellierung des Expositionspfades „Ingestion von Lebensmitteln“ weist auf der anderen Seite eine Reihe deutlich konservativer Annahmen auf. So ist insbesondere die Annahme, dass die Hälfte der von der repräsentativen Person während eines Jahres aufgenommenen Nahrung kontaminiert ist, in der Realität nicht zu erwarten. Dabei wird auch nicht berücksichtigt, dass als weitere Schutzmaßnahme Kontrollen zur Einhaltung von Lebensmittelhöchstwerten eingeführt würden.

Die Einrichtung einer messtechnischen Infrastruktur, um eine repräsentative, auf Stichprobenmessungen basierende Kontrolle von Lebensmitteln und Futtermitteln zu etablieren, benötigt trotz entsprechender Vorbereitungen eine Vorlaufzeit. Daher kommt einem abgeleiteten Richtwert mit der Messgröße ODL (µSv h–1) zur Entscheidung über das kurzfristig veranlassbare landwirtschaftliche Maßnahmenpaket eine wichtige Rolle zu, da weitgehend flächen­deckende und repräsentative ODL-Messungen wesentlich früher nach dem Eintritt einer großräumigen Kontamination vorliegen werden und damit Maßnahmen zur Beschränkung der Dosis der Bevölkerung durch Ingestion von Lebensmitteln schon sehr frühzeitig ergriffen werden können.

Schutzmaßnahmen des landwirtschaftlichen Maßnahmenpakets, die prophylaktisch nach Eintritt einer Kontamina­tionssituation aufgrund von Messungen der ODL ergriffen wurden, können zu einem späteren Zeitpunkt überprüft und bestätigt, angepasst (z. B. auf einzelne Lebensmittel eingeschränkt) oder aufgehoben werden, sobald aus­reichend repräsentative Stichprobenmessungen der Aktivitätskonzentration in Lebens- und Futtermitteln vorliegen.

Die prophylaktischen Schutzmaßnahmen des landwirtschaftlichen Maßnahmenpakets stellen keinen unzumutbaren Eingriff in die landwirtschaftliche Produktion dar, da auch in den von diesen Maßnahmen betroffenen Gebieten die EURATOM-Höchstwerte der Aktivitätskonzentration in Lebens- und Futtermitteln gelten. Dies bedeutet, dass eine Inverkehrbringung von in diesen Gebieten erzeugten Lebens- und Futtermitteln möglich bleibt, solange nachgewiesen wird, dass die EURATOM-Höchstwerte eingehalten werden.

Tabelle 5.8:

Festlegungen zum abgeleiteten Richtwert für das landwirtschaftliche Maßnahmenpaket bei Verwendung der Messgröße ODL

Landwirtschaftliches
Maßnahmenpaket
Empfehlung zum Verzicht des Verzehrs frisch geernteter Lebensmittel
Auf Ernte verzichten (Verschieben der Ernte)
Vieh nicht weiden lassen und nicht mit frisch geernteten Futtermitteln versorgen
Oberflächenwasser nicht als Viehtränke und nicht zur Bewässerung von Anbaukulturen verwenden
Richtwert der Dosis 10 mSv effektive Dosis im Jahr (unter der Annahme, dass 50 % der konsumierten Nahrung kontaminiert ist)
Messgröße ODL in ca. 1 m Höhe über der kontaminierten Fläche
Expositionspfade Ingestion von Lebensmitteln
Modellierung Expositionspfade Es ist der Zusammenhang zwischen der Messgröße Ortsdosisleistung durch trocken oder nass abgelagerte Radionuklide auf Bewuchs und Boden und der Aktivitätskonzentration in Lebensmitteln während eines Jahres zu bestimmen. Zur Berechnung der Ingestionsdosis der repräsentativen Person werden Annahmen zu deren Verzehrsgewohnheiten und über den Anteil der Nahrung, der kontaminiert ist, getroffen. Die Modellierung ist von (IAEA 2017) für Freisetzungen bei Kernkraftwerksunfällen übernommen. Dabei wird angenommen, dass 50 % aller Nahrungsmittel durch abgelagerte radioaktive Stoffe belastet sind. Es sind ergänzende JRODOS-Rechnungen durch das BfS durchgeführt worden.
Abgeleiteter Richtwert 1 µSv h–1
Hinweise Dieser ODL-Wert kann mit ortsfesten und mobilen Strahlungsmessgeräten gemessen werden. Es ist darauf zu achten, dass dabei für landwirtschaftlich genutzte Flächen repräsentative Werte ermittelt werden. Messungen der ODL werden auch zur Identifikation von Gebieten herangezogen, in denen das IMIS-Intensivmessprogramm durchzuführen ist. Die IAEA verwendet diesen abgeleiteten Richtwert ebenfalls.
Bei einer ODL von 1 µSv h–1 kann es bei Blattgemüse und anderen Lebens- und Futtermitteln vorübergehend zu Überschreitung von EU-Höchstwerten kommen.
Sowohl der Richtwert der Dosis als auch die Methodik bei der Bestimmung des zugehörigen abgeleiteten Richtwertes sind in enger Wechselbeziehung zu sehen. Es ist daher nicht als inkompatibel anzusehen, dass der Richtwert der Dosis für das landwirtschaftliche Maßnahmenpaket mit 10 mSv a–1 effektive Dosis angesetzt ist und für die Herleitung der EU-Höchstwerte für Lebens- und Futtermittel 1 mSv a–1 herangezogen wird.

Ergänzende JRODOS-Rechnungen durch das BfS ergeben, dass es bei einer ODL von 1 µSv h–1 bei einigen Lebens- und Futtermitteln (z. B. Blattgemüse) teilweise zu Überschreitung von EU-Höchstwerten kommen kann. Es kann ­jedoch erwartet werden, dass dadurch die Einhaltung des Richtwertes der Dosis von 1 mSv effektive Dosis im ersten Jahr, der den EU-Höchstwerten und dem damit verbundenen Kontrollsystem zugrunde liegt, nicht infrage gestellt ist.

5.5.2 Höchstwerte der Aktivitätskonzentration in Lebens- und Futtermitteln

Zusätzlich zu dem oben beschriebenen vorsorglichen landwirtschaftlichen Maßnahmenpaket in der Frühphase mit einem abgeleiteten Richtwert der ODL von 1 µSv h–1 werden für die anschließende Zeit noch abgeleitete Richtwerte der massenbezogenen Aktivitätskonzentration für radiologisch wichtige freigesetzte Radionuklide [Bq kg–1] in Lebens- und Futtermitteln verbindlich. Das sind die Höchstwerte der Aktivitätskonzentration in Lebens- und Futtermitteln, die gemäß § 94 StrlSchG in einer Rechtsverordnung festgelegt werden können. Diese sind derzeit durch die EU-Höchstwerte-Verordnung spezifiziert (Euratom 2016).

Aus systematischen Gründen wird in Tabelle 5.7 auf diese ebenfalls als abgeleitete Richtwerte zu verstehenden EU-Höchstwerte für Lebens- und Futtermittel Bezug genommen. Die Einhaltung dieser Höchstwerte (abgeleitete Richtwerte) obliegt dem Inverkehrbringer der Lebens- und Futtermittel. Die Einhaltung dieser Lebensmittel-Höchstwerte soll durch systematische Stichproben überprüft werden. Diese geben Hinweise, in welchen Gebieten und bei welchen Lebens- und Futtermitteln noch mit Überschreitungen zu rechnen ist. Der Einsatz eines solchen Kontrollsystems mit Messungen der Aktivitätskonzentration ausgewählter Schlüsselnuklide ist in Deutschland bereits zu einem hohen Grad vorgeplant (BMU 2006). Bis zum Vorliegen von flächendeckenden Messdaten aus den unterschiedlichen Umweltbereichen würde im Ereignisfall trotzdem einige Zeit vergehen (erwartungsgemäß einige Tage). Das Kontroll­system ist als lernendes System anzusehen, das durch Auswertung der Kontrollmessungen auch ohne vorab definierte räumliche Grenzen funktionieren kann.

Der Richtwert der Dosis für die Festlegung von Höchstwerten für Lebens- und Futtermittel ist eine effektive Dosis von 1 mSv pro Jahr, die durch den Verzehr kontaminierter Lebensmittel aus vom Notfallereignis betroffenen Gebieten resultieren könnte. Auch in diesem Fall ist auf die enge Verbindung dieses Richtwertes der Dosis mit den bei der Ermittlung der Höchstwerte getroffenen Annahmen zu Verzehrsgewohnheiten und zur Versorgungssituation der Bevölkerung hinzuweisen. Dazu zählt insbesondere die Annahme, dass ein Anteil von 10 % der konsumierten Lebensmittel die zulässigen Höchstwerte ausschöpft.

Tabelle 5.9:

Festlegungen zum abgeleiteten Richtwert für die Maßnahme „Höchstwerte der Aktivitätskonzentration in Lebens- und Futtermitteln“ bei Verwendung der Messgröße Aktivitätskonzentration

Maßnahme Verbot des Inverkehrbringens von Lebens- und Futtermitteln
Richtwert der Dosis 1 mSv effektive Dosis im Jahr (unter der Annahme, dass 10 % der jährlich konsumierten Nahrung bis zum Limit kontaminiert sind)
Messgröße Aktivitätskonzentration in Lebensmitteln [Bq kg–1]
Expositionspfade Ingestion von Lebensmitteln
Modellierung Expositionspfade Modellierung liegt Begründung der EU-Höchstwerte zugrunde (EC 1998)
Abgeleiteter Richtwert EU-Höchstwerte (Euratom 2016)
Hinweise Die Nachweispflicht der Einhaltung obliegt dem Inverkehrbringer von Erzeugnissen.
Der Hersteller, Händler oder Inverkehrbringer hat die einwandfreie Qualität des Erzeugnisses für den menschlichen Gebrauch hinsichtlich radioaktiver Stoffe sicherzustellen.
Die Einhaltung der EU-Höchstwerte wird durch systematische Stichproben überprüft. Vereinzelte Überschreitungen von EU-Höchstwerten in Lebensmitteln bedeuten keine ins Gewicht fallende gesundheitliche Gefährdung. Dadurch wird die Einhaltung des Richtwertes der Dosis von 1 mSv effektive Dosis im Jahr nicht infrage gestellt.

5.6 Überlegungen zur Anordnung der Schutzmaßnahme „Umsiedlung“

Die Maßnahme „Umsiedlung“ geht in ihrer Konsequenz über die Maßnahme „Evakuierung“ weit hinaus. „Umsiedlung“ bezeichnet die Verlegung der Bevölkerung eines Gebiets in der Nachunfallphase; sie wirkt damit nur noch gegen die äußere Bestrahlung vom Boden und die Inhalation von in die Atemluft resuspendierten radioaktiven Stoffen. Sie stellt einen über einen längeren Zeitraum andauernden sehr schwerwiegenden Eingriff in das private, gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben dar. Daher ist eine Entscheidung nicht nur auf der Basis radiologischer Gesichtspunkte zu treffen, ebenso müssen nicht-radiologische Aspekte berücksichtigt werden. Im Folgenden werden nur die radiolo­gischen Aspekte betrachtet:

Die Entscheidung über die Schutzmaßnahme „Umsiedlung“ sollte erst dann fundiert erfolgen, wenn die radiologische Lage erfasst ist. Diese ist bestimmt durch die Höhe und räumliche Verteilung der Kontamination durch trocken oder nass (Niederschlag) abgelagerte Radionuklide und deren für eine Exposition ausschlaggebende Eigenschaften wie Halbwertszeit, emittierte (z. B. durchdringende) Strahlung, Verhalten in der Biosphäre etc. Die über längere Zeiten wirksame externe Strahlung durch gammaemittierende Radionuklide ist für die Exposition der Bevölkerung maßgeblich. In Gebieten, in denen bereits zu einem früheren Zeitpunkt eine „Evakuierung“ erfolgt ist, kann diese zunächst kurzfristige Maßnahme in eine „Umsiedlung“ übergehen. Nach Erfassung der entstandenen radiologischen Lage kann über Umsiedlung auf einer wesentlich fundierteren Grundlage mit geringerer Eilbedürftigkeit entschieden werden als über die kurzfristig oder gar vorbeugend zu ergreifenden Maßnahmen wie „Evakuierung“, da mit der Maßnahme Umsiedlung die über längere Zeitdauern akkumulierten Strahlendosen über externe Exposition durch Gammastrahlung begrenzt werden soll.

Primärer radiologischer Maßstab bei dieser für die betroffene Bevölkerung sehr schwerwiegenden Schutzmaßnahme ist die zu erwartende verbleibende effektive Dosis für repräsentative Personen im ersten Jahr. Ein abgeleiteter Richtwert für die Schutzmaßnahme „Umsiedlung“ wird in dieser Empfehlung nicht festgelegt. Das wird damit begründet, dass in die Entscheidungsfindung über die Durchführung dieser schwerwiegenden Maßnahme diverse erst im Ereignisfall erkennbare Einflussgrößen eine gewichtige Rolle spielen können, wie z. B. Charakteristika des betroffenen Gebietes, zeitliche Entwicklung der ODL in Abhängigkeit von den maßgeblichen Radionukliden der Kontaminationssituation, die Berücksichtigung möglicher Dekontaminationsmaßnahmen und Verhaltensempfehlungen, Reaktionen der Bevölkerung oder soziopsychologische Aspekte, die die Durchführbarkeit der Maßnahme beeinflussen.

Stattdessen werden im Folgenden Hinweise gegeben, welche Gesichtspunkte und Abwägungen aus Sicht des radiologischen Notfallschutzes für die Entscheidung über die Maßnahme „Umsiedlung“ wichtig sind.

Als radiologisches Kriterium für die Maßnahme „Umsiedlung“ ist für das erste Jahr nach Eintritt der Kontaminationssituation der Referenzwert für die verbleibende Dosis von 100 mSv im ersten Jahr die geeignete Vergleichsgröße. Referenzwerte für die folgenden Jahre werden im Voraus nicht festgelegt. Für die Entscheidungsfindung über die Maßnahme „Umsiedlung“ wird die über alle Expositionspfade im ersten Jahr zu erwartende effektive Dosis ermittelt und dem Referenzwert gegenübergestellt. Der Ingestionspfad muss nicht berücksichtigt werden, da vorausgesetzt werden kann, dass genügend nicht oder nur schwach kontaminierte Lebensmittel zur Verfügung stehen. Die Ermittlung dieser verbleibenden Dosis im Verlauf des ersten Jahres sollte möglichst realitätsnah erfolgen und den Einfluss von durchgeführten Schutzmaßnahmen und gängigen Verhaltensweisen der Bevölkerung einbeziehen. Dabei kommt für das jeweilige Gebiet der Bestimmung einer in Bezug auf Aufenthaltsorte und Aufenthaltszeiten repräsentativ ­ermittelten Dosis besondere Bedeutung zu. Wesentlichen Einfluss auf die Modellierung der Exposition von Personen hat die Annahme, welche Zeit repräsentative Personen im Mittel im betrachteten kontaminierten Gebiet im Freien verbringen.

Mit den heute existierenden Modellen in JRODOS und der umfassenden Sammlung und Analyse von radiologischen Messdaten in IMIS kann eine Dosisabschätzung der Bevölkerung – insbesondere basierend auf flächendeckenden Dosisleistungsmessungen und repräsentativen Messungen des Nuklidvektors – durchgeführt werden. Mit diesen ­beiden Informationen und zusammen mit mittleren Aufenthaltswahrscheinlichkeiten der Bevölkerung in einem bestimmten Gebiet im Freien ist es möglich, eine Prognose über die zu erwartende Dosis im ersten Jahr für diese Gebiete abzuleiten. Dieser Dosiswert kann dann mit dem Referenzwert verglichen werden und damit eine radiologisch basierte Empfehlung für die Maßnahme Umsiedlung erstellt werden.

Die heutigen fortgeschrittenen elektronischen Möglichkeiten von mobilen Geräten bei Datenerhebung, Datenanalyse sowie Kommunikation können im Ereignisfall die Überprüfung realer Expositionen von geeignet ausgewählten Bezugspersonen, die sich in kontaminierten Gebieten aufhalten, erheblich unterstützen. Damit bestehen verbesserte Möglichkeiten, Annahmen auf ihre Realitätsnähe zu überprüfen, die bei der Festlegung eines abgeleiteten Richtwertes für die Maßnahme „Umsiedlung“ getroffen werden oder worden sind, und gewonnene Erkenntnisse bei weiterer Entscheidungsfindung zu berücksichtigen.

6 Praktische Anwendung von abgeleiteten Richtwerten für die Planung und Durchführung von Schutzmaßnahmen in Notfallsituationen

Bei der Planung und Durchführung von Schutzmaßnahmen in Notfallsituationen muss durch die zuständigen Behörden sichergestellt werden, dass die notwendigen Schutzstrategien als Grundlage für Entscheidungen über Schutzmaßnahmen vorab entwickelt, gerechtfertigt und optimiert, regelmäßig erprobt und im Ereignisfall zeitgerecht umgesetzt werden können.

Die Entwicklung abgeleiteter Richtwerte für Schutzmaßnahmen auf der Grundlage von Messungen ist wesentlicher Bestandteil einer solchen Schutzstrategie. Die in diesem Dokument beschriebenen abgeleiteten Richtwerte dienen als Vergleichsmaßstab zur Beurteilung, ob auf der Grundlage von Messdaten eine Gefährdung der Bevölkerung erkannt werden kann und der Bedarf für Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung gegeben ist oder nicht. Ein derartiger Vergleich macht es erforderlich, dass die zugrundeliegenden Messungen einigen Mindestanforderungen genügen, insbesondere, dass die Messergebnisse repräsentativ für die Exposition der Bevölkerung sind.

Für die Durchführung der Messungen stehen einfache und empfindliche Nachweisverfahren und gängige Messinstrumente zur Verfügung, die zusammen mit den im radiologischen Notfallschutz etablierten Analysewerkzeugen wesentlich zur Erstellung des Lagebilds beitragen. Bei Entscheidungen über erforderliche Maßnahmen müssen auch nicht-radiologische Faktoren (wie z. B. die Durchführbarkeit einer Maßnahme, mögliche negative Auswirkungen auf die Bevölkerung bei Durchführung der Maßnahme etc.) berücksichtigt werden.

Es ist von großer Wichtigkeit, dass bei der Entwicklung von Schutzstrategien sowohl die fachlichen und technischen Grundlagen für Entscheidungen über Schutzmaßnahmen als auch organisatorische Fragen für eine zeitnahe und kompetente Information des Einsatzpersonals und der Öffentlichkeit in die Überlegungen einbezogen werden. Dies setzt eine sorgfältige Planung voraus zur Erhebung und Analyse der Messdaten, deren Übermittlung an die mit der Notfallbewältigung befassten Organisationen, der Information über Maßnahmenentscheidungen und die vertrauensvolle Information der betroffenen Bevölkerung. Die Umsetzung konkreter Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung wird auf der einen Seite durch das Einsatzpersonal sichergestellt, auf der anderen Seite durch die Mitwirkung der damit befassten und betroffenen Personen. Eine Voraussetzung hierfür ist, dass alle wesentlichen Informationen zur Ermittlung und Bewertung der jeweils aktuellen radiologischen Lage möglichst schnell und zuverlässig den zuständigen Behörden und den Einsatzorganisationen zur Verfügung gestellt werden und die Öffentlichkeit zeitnah entsprechend informiert wird.

Es ist zu erwarten, dass die Bevölkerung in der Regel keine eigene Bewertung der radiologischen Situation anhand von Messdaten vornehmen kann. Es ist auch bekannt, dass in der Bevölkerung verbreitete Befürchtungen gegenüber radioaktiven Stoffen und den mit ionisierender Strahlung verbundenen gesundheitlichen Risiken und Gefahren be­stehen. Dies kann im Fall einer Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Umgebung verstärkt zu Sorgen um die eigene Gesundheit und die nahestehender Personen führen und mit Unsicherheit und Ängsten einhergehenden psychischen Belastungen verbunden sein, auf die im Rahmen der Information eingegangen werden muss. Die Verwendung von abgeleiteten Richtwerten bei der Information über die radiologische Lage und Schutzmaßnahmen sollte sich deshalb nicht nur auf die Beantwortung der Frage einer bestehenden Gefährdung beschränken, sondern gleichzeitig auch die Möglichkeiten zur Reduzierung bzw. Vermeidung der vorhandenen Risiken aufzeigen. Da die abgeleiteten Richtwerte jeweils direkt mit Schutzmaßnahmen verknüpft sind, liefern sie auch die Grundlagen für Handlungsempfehlungen, die bei der Informationsvermittlung geeignet berücksichtigt werden können.

Ein verantwortungsvoller Umgang mit dieser Problematik macht es erforderlich, dass im Hinblick auf die Information des Einsatzpersonals und der Öffentlichkeit die notwendige Infrastruktur zur Verfügung steht, die Informationswege abgestimmt und geregelt sind und für den Ereignisfall schon vorab aufbereitete Arbeitsmittel, wie z. B. Zusammenstellungen von häufig gestellten Fragen (FAQs), für die Information zur Verfügung stehen. Besonders wichtig ist hierbei, dass im Rahmen von Notfallschutzübungen zu den Referenzszenarien auch das vorgesehene Kommunikationskonzept beübt und bewertet wird.

7 Literatur

BMU 2006 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU). Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Integrierten Mess- und Informationssytem zur Überwachung der Radioaktivität in der Umwelt (IMIS) nach dem Strahlenschutzvorsorgegesetz (AVV-IMIS) vom 13. Dezember 2006 (BAnz. Nr. 244a vom 29. Dezember 2006)
Deckert et al. 2000 Deckert A, Thierfeldt S, Kugeler E. Radiologische Bewertung einer Kontamination: Entscheidungshilfe zur Festlegung von flächenbezogenen Freigabewerten und Herleitung von Freigabewerten für flüssige Reststoffe und Abschätzung der durch Freigabe von Reststoffen und Abfällen verursachten Kollektivdosis. Schriftenreihe Reaktorsicherheit und Strahlenschutz, BMU-2000-559, Bonn, 2000
Euratom 2014 Rat der Europäischen Union. Richtlinie 2013/59/Euratom des Rates vom 5. Dezember 2013 zur Festlegung grundlegender Sicherheitsnormen für den Schutz vor den Gefahren einer Exposition gegenüber ionisierender Strahlung und zur Aufhebung der Richtlinien 89/618/Euratom, 90/641/Euratom, 96/29/Euratom, 97/43/Euratom und 2003/122/Euratom. Amtsblatt der Europäi­schen Union, L 13/1, 17. Januar 2014
Euratom 2016 Rat der Europäischen Union. Verordnung (Euratom) 2016/52 des Rates vom 15. Januar 2016 zur Festlegung von Höchstwerten an Radioaktivität in Lebens- und Futtermitteln im Falle eines nuklearen Unfalls oder eines anderen radiologischen Notfalls und zur Aufhebung der Verordnung (Euratom) Nr. 3954/87 des Rates und der Verordnungen (Euratom) Nr. 944/89 und (Euratom) Nr. 770/90 der Kommission. Amtsblatt der Europäischen Union L 13/3 vom 20. Januar 2016
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IAEA 2015 International Atomic Energy Agency (IAEA). Preparedness and Response for a Nuclear or Radiological Emergency. General Safety Requirements, No. GSR Part 7. Wien, 2015, ISBN 978–92–0–105715–0, http://www-pub.iaea.org/MTCD/publications/PDF/P_1708_web.pdf, zuletzt aufgerufen am 11.07.2018
IAEA 2017 International Atomic Energy Agency (IAEA). Operational Intervention Levels for Reactor ­Emergencies and Methodology for their Derivation. EPR-NPP-OILs, 2017, ISSN 2518–685X
ICRP 2006 International Commission on Radiological Protection (ICRP). Assessing Dose of the Representative Person for the Purpose of Radiation Protection of the Public and the Optimisation of Radiological Protection: Broadening the Process. ICRP Publication 101a, Ann. ICRP 36(3), Elsevier, 2006, ISBN 0702029270
ICRP 2007 International Commission on Radiological Protection (ICRP). The 2007 Recommendations of the International Commission on Radiological Protection. ICRP Publication 103, Ann. ICRP 37(2-4), 2007, Elsevier, ISBN 978-0702030482
NDWV 2018 Verordnung zur Festlegung von Dosiswerten für frühe Notfallschutzmaßnahmen (Notfall-Dosiswerte-Verordnung - NDWV) vom 29. November 2018 (BGBl. I S. 2034, 2172)
SSK 2007 Strahlenschutzkommission (SSK). Übersicht über Maßnahmen zur Verringerung der Strahlenexposition nach Ereignissen mit nicht unerheblichen radiologischen Auswirkungen, Überarbeitung des Maßnahmenkatalogs Band 1 und 2. Empfehlung der Strahlenschutzkommission, verabschiedet in der 220. Sitzung der SSK am 5./6. Dezember 2007. Berichte der Strahlenschutzkommission, Heft 60, H. Hoffmann GmbH - Fachverlag, Berlin, 2010, ISBN 978-3-87344-163-7
SSK 2011 Strahlenschutzkommission (SSK). Beratungsergebnisse des SSK-Krisenstabs zu den Auswirkungen des Reaktorunfalls von Fukushima auf die Situation in Deutschland in Bezug auf kontaminierte Schiffe, Fracht und Waren. In der 249. Sitzung der Strahlenschutzkommission am 14./15. Juli 2011 zustimmend zur Kenntnis genommen.
https://www.ssk.de/SharedDocs/Beratungsergebnisse_PDF/2011/2011_07.pdf
SSK 2014 Strahlenschutzkommission (SSK). Radiologische Grundlagen für Entscheidungen über Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung bei Ereignissen mit Freisetzungen von Radionukliden. Empfehlung der Strahlenschutzkommission, verabschiedet in der 268. Sitzung der Strahlenschutzkommission am 13./14. Februar 2014. urn:nbn:de:101:1-2014111925770. Bekanntmachung im Bundesanzeiger (BAnz AT 18.11.2014 B5)
SSK 2015 Strahlenschutzkommission (SSK). Abgeleitete Richtwerte für Maßnahmen zum Schutz von Personen bei Kontaminationen der Umwelt mit Alpha- und Betastrahlern. Empfehlung der Strahlenschutzkommission mit wissenschaftlicher Begründung, verabschiedet in der 279. Sitzung der Strahlenschutzkommission am 3./4. Dezember 2015. urn:nbn:de:101:1-201605303033. Bekanntmachung im Bundesanzeiger (BAnz AT 01.07.2016 B3)
SSK 2018 Strahlenschutzkommission (SSK). Verwendung von Jodtabletten zur Jodblockade der Schilddrüse bei einem Notfall mit Freisetzung von radioaktivem Jod. Empfehlung der Strahlenschutzkommission, verabschiedet in der 294. Sitzung der Strahlenschutzkommission am 26. April 2018, geändert in der 298. Sitzung der Strahlenschutzkommission am 6. Februar 2019.
urn:nbn:de:101:1-2019050811554539502723. Bekanntmachung im Bundesanzeiger (BAnz AT 07.05.2019 B4)
StrlSchG 2017 Gesetz zum Schutz vor der schädlichen Wirkung ionisierender Strahlung (Strahlenschutzgesetz - StrlSchG) vom 27. Juni 2017 (BGBl. I S. 1966), das durch Artikel 2 des Gesetzes vom 27. Juni 2017 (BGBl. I S. 1966) geändert worden ist
StrlSchV 2018 Verordnung zum Schutz vor der schädlichen Wirkung ionisierender Strahlung (Strahlenschutz­verordnung - StrlSchV) vom 29. November 2018 (BGBl. I S. 2034, 2036)
TrinkwV 2001 Verordnung über die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch (Trinkwasserverordnung – TrinkwV 2001) in der Fassung der Bekanntmachung vom 10. März 2016 (BGBl. I S. 459), die zuletzt durch Artikel 1 der Verordnung vom 3. Januar 2018 (BGBl. I S. 99) geändert worden ist

8 Glossar

ALARA („As Low As Reasonably Achievable“)

Das ALARA-Prinzip fordert beim Umgang mit ionisierenden Strahlen eine so niedrige Strahlenbelastung von Personen der Bevölkerung (auch unterhalb von Grenz- oder Richtwerten), wie sie vernünftigerweise und unter Abwägung ökonomischer und gesellschaftlicher Vor- und Nachteile machbar erscheint.

Bewässerung

Bewässerung ist die Versorgung des Kulturlandes mit Wasser, um das Wachstum von Pflanzen zu fördern und ­fehlenden Niederschlag zu ersetzen.

Deterministische Effekte

Schäden in Geweben oder Organsystemen, deren Dosis-Wirkungsbeziehungen durch eine Schwellendosis und eine Zunahme des Schweregrads der Wirkung mit zunehmender Dosis gekennzeichnet sind. Sie treten definitionsgemäß nicht an einzelnen Zellen auf, sondern beziehen sich stets nur auf einen Zellverband. Daher werden sie auch als gewebliche Effekte oder Gewebereaktion (tissue reactions) bezeichnet. Verursacht werden deterministische Effekte durch den Tod und/oder durch die Inaktivierung von Funktionen vieler Zellen. In einigen Fällen sind deterministische Effekte durch Maßnahmen nach einer Bestrahlung veränderbar.

Effektive Dosis

Summe der mit den zugehörigen Gewebe-Wichtungsfaktoren wT multiplizierten Organ-Äquivalentdosen HT in relevanten Organen und Geweben

Formel zur Bestimmung der effektiven Dosis E  .

HT bzw. wR DT,R beschreiben die Äquivalentdosis in einem Gewebe oder Organ T; wT ist der Gewebewichtungsfaktor, wR der Strahlungswichtungsfaktor.

Die Einheit der effektiven Dosis ist J kg–1, ihr Name ist Sievert (Einheitenzeichen Sv).

Eingreifrichtwerte

Eingreifrichtwerte sind Richtwerte der Dosis, die als Maßstab dafür dienen, wann aus Sicht des Strahlenschutzes bestimmte Schutzmaßnahmen gerechtfertigt sein können. Bei einer Entscheidung über solche Maßnahmen müssen aber zusätzlich zur Dosis noch weitere Aspekte berücksichtigt werden, wie zum Beispiel, ob die Maßnahme durchführbar ist und welche zusätzlichen Risiken dabei entstehen. Wird ein Eingreifrichtwert überschritten, löst dies daher nicht automatisch eine Maßnahme aus.

Iodblockade

Unter einer Iodblockade versteht man die vorbeugende Einnahme von stabilem (d. h. nicht-radioaktivem) Iod. Sie dient dazu, nach einer starken Freisetzung von radioaktivem Iod, z. B. bei einem Nuklearunfall, die Aufnahme von radioaktivem Iod in die Schilddrüse zu vermeiden und damit die Entstehung von Schilddrüsenkrebs zu verhindern. Die Einnahme erfolgt gewöhnlich in Form von so genannten „Iodtabletten“, wobei es sich genau genommen um hochdosierte Kaliumiodid- oder Kaliumiodat-Tabletten handelt.

Notfall-Dosiswerte

Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit hat per Rechtsverordnung (Notfall-Dosiswerte-Verordnung – NDWV) Dosiswerte festgelegt, die bei einem Notfall als radiologische Kriterien für die ­Angemessenheit folgender Schutzmaßnahme dienen: Aufforderung zum Aufenthalt in Gebäuden, zur Einnahme von Jodtabletten, Evakuierung. Sie entsprechen den für diese drei Schutzmaßnahmen in den Radiologischen Grundlagen empfohlenen Eingreifrichtwerten.

Notfallexpositionsgebiet

Gebiet, in dem Notfallschutzmaßnahmen erforderlich werden. Die genaue Definition und Bezeichnung rechtlich relevanter Gebiete ist dem zu entwickelnden Notfallplan des Bundes zu entnehmen.

Notfallexpositionssituation

Gemäß § 2 Absatz 3 StrlSchG ist eine Notfallexpositionssituation eine Expositionssituation, die durch einen radiologischen Notfall entsteht, solange die Situation nicht unter die Begriffsbestimmung der bestehenden Expositionssituation nach § 2 Absatz 4 StrlSchG fällt.

Operational Intervention Level (OIL)

Operationelle Kriterien, die es Entscheidungsträgern ermöglichen, in einem radiologischen Notfall Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung zu ergreifen. Grundlage für die numerische Festlegung der OILs (abgeleitete Richtwerte) sind Messdaten, die in Notfallsituationen ermittelt werden.

Ortsdosisleistung (ODL)

Ortsdosis pro Zeitintervall (z. B. pro Stunde): Äquivalentdosis, gemessen an einem bestimmten Ort. Die Einheit der Ortsdosis ist J kg–1 mit dem speziellen Namen Sievert (Sv).

Quellterm

Der Quellterm einer Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Umgebung, meist in die Atmosphäre, beinhaltet idealerweise folgende Angaben:

Die Spezifikation der freigesetzten Aktivität der radiologisch wichtigsten Radionuklide.
Randbedingungen der Freisetzung wie zeitliche Verteilung, die Freisetzungshöhe über Grund, treibende Kräfte wie thermischer Inhalt (Auftrieb) oder explosionsartiger Freisetzungsvorgang.
Chemische und physikalische Form (z. B. Partikelgrößenverteilung) von freigesetzten Radionukliden, die eine ­atmosphärische Ausbreitung und trockene oder nasse Deposition beeinflussen und/oder die erhaltene Dosis von Personen nach Inkorporation über Inhalation oder Ingestion.

Referenzszenarien

Auf der Grundlage von Gefährdungsanalysen erstellte Zusammenstellung postulierter Ereignisse und entsprechender Szenarien, die die Grundlage für die Planung von Schutzstrategien durch die zuständigen Behörden liefert. Im Allgemeinen Notfallplan des Bundes werden für die Notfallplanung 10 Referenzszenarien definiert.

Resuspension

Als Resuspension wird die Ablösung und der Wiedereintrag in die umgebende Luft von auf Oberflächen deponierten Partikeln bezeichnet. Ursache der Resuspension sind hydrodynamische Kräfte durch Luftströmungen und durch einwirkende mechanische Kräfte induzierte Oberflächenschwingungen (Vibration), die auf deponierte Partikel wirkende Haftkräfte überwinden. Die Adsorptionshaftkräfte zwischen Partikeln und Oberfläche weisen üblicherweise eine große Bandbreite auf und sind von der Partikelgröße abhängig. Kleine Partikel haften deutlich stärker als größere. Für eine Strahlenexposition durch Inhalation resuspendierter radioaktiver Partikel sind Partikelgrößen im lungengängigen Größenbereich < 10 µm aerodynamischer Durchmesser maßgeblich.

Referenzwert

Der Referenzwert für die verbleibende (effektive) Dosis im ersten Jahr bei Ereignissen mit Freisetzung radioaktiver Stoffe ist ein radiologisches Schutzziel zur Konkretisierung der übergeordneten Zielsetzung, durch Schutzmaßnahmen die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten stochastischer Effekte hinreichend zu begrenzen. Dabei gilt auch für Expositionen unterhalb dieses Referenzwertes das ALARA-Prinzip. Die Planung und Durchführung von konkreten Schutzmaßnahmen dienen diesem Schutzziel. Durch sie sollen verbleibende Dosen so reduziert werden, dass ein Überschreiten des Referenzwertes weitgehend vermieden wird und erhaltene Dosen auch unterhalb des Referenzwertes unter Beachtung der waltenden Umstände möglichst niedrig sind. Dazu zählt insbesondere ein Abwägen zwischen der Höhe erwartbarer Individualdosen ohne oder mit in Frage stehenden Schutzmaßnahmen und der mit diesen Maßnahmen verbundenen Schwere des Eingriffs in das Leben der Bevölkerung. Der Referenzwert für die verbleibende Dosis in Notfallsituationen und nach Übergang in eine bestehende Situation dient als Maßstab für die Prüfung der Angemessenheit von Schutzmaßnahmen. Der Referenzwert für die verbleibende (effektive) Dosis für Notfallexpositionssituationen beträgt gemäß den Radiologischen Grundlagen (SSK 2014) und Strahlenschutzgesetz anfänglich 100 mSv verbleibende (effektive) Dosis im ersten Jahr. Der Referenzwert ist kein Grenzwert.

Repräsentative Person

Berechnete oder geeignet ermittelte Dosen bei Notfall-Expositionssituationen oder bestehenden Expositionssitua­tionen beziehen sich auf den Schutz von Bevölkerungsgruppen. ICRP 101 (ICRP 2006) hat dazu den Begriff der „repräsentativen Person“ eingeführt, der die früher verwendete „kritische Personengruppe“ ersetzt. Eine repräsentative Person steht stellvertretend für eine Bevölkerungsgruppe mit vergleichbaren Eigenschaften hinsichtlich der ­Expositionsbedingungen, der erhaltenen Dosis und der damit verbundenen gesundheitlichen Risiken.

Insbesondere sollen dadurch auch Personengruppen erfasst werden, die in Bezug auf erhaltene Dosen und ihre Strahlenempfindlichkeit ungünstige Bedingungen und Eigenschaften aufweisen, jedoch keinesfalls extreme. Die jeweils durch eine repräsentative Person erfassten Personengruppen sind dabei im Hinblick auf ihre Strahlenexposition durch ihre physiologischen Eigenschaften und angenommenen Verhaltensweisen zu charakterisieren. Im Sinne einer vorsichtigen, aber nicht überzogenen Festlegung von Eigenschaften einer repräsentativen Person mittels quantifizierter Parameter, z. B. für die Ernährungsgewohnheiten, schlägt ICRP 101 die Orientierung an einem 95 Perzentilwert vor. Dieses hohe Perzentil soll sich jedoch bei mehreren Einflussgrößen nicht auf einen einzelnen Parameter, sondern auf das Gesamtergebnis der ermittelten Dosis für die jeweilige repräsentative Person beziehen. Bei Notfall- und bestehenden Expositionssituationen sind neben Erwachsenen und Kindern auch Schwangere im Hinblick auf die höhere Strahlen­empfindlichkeit während der vorgeburtlichen Entwicklung von Embryo und Fetus als „repräsentative Person“ zu betrachten.

Schutzstrategie

Ziel einer Schutzstrategie ist es, die Strahlenexposition der Bevölkerung und der Einsatzkräfte in Situationen mit erhöhten Expositionswerten durch Freisetzungsereignisse so zu begrenzen, dass deterministische Strahlenwirkungen vermieden werden und das Risiko stochastischer Strahlenwirkungen gering bleibt. Sie liefert die Grundlage für die behördliche Planung und Durchführung von Schutzmaßnahmen in Notfallsituationen. Sie soll vorab entwickelt, gerechtfertigt und optimiert sowie regelmäßig erprobt werden, damit die erforderlichen Schutzmaßnahmen im Ereignisfall zeitgerecht und effizient umgesetzt werden können.

Stochastische Effekte

Stochastische Effekte sind Strahlenschäden, bei denen die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens mit zunehmender Dosis zunimmt, ihr Schweregrad jedoch nicht dosisabhängig ist. Folgen stochastischer Effekte können Krebserkrankungen (somatischer stochastischer Strahlenschaden) oder Erbkrankheiten bei Nachkommen (genetischer stochastischer Strahlenschaden) sein.

Jede biologische Wirkung ionisierender Strahlung entsteht durch statistisch verteilte Energiedepositionen in den ­Zellen des menschlichen Körpers. Sie führt zu Ionisationen in verschiedenen Molekülen der Zelle, die dadurch verändert werden können. Besonders folgenreich sind dabei Veränderungen an der Erbinformation, der DNA. Diese ­Veränderungen können

den Tod oder die funktionelle Inaktivierung der Zelle (sofort oder nach einem längeren Zeitraum) oder
eine molekulare Veränderung der Zelle (vor allem eine bleibende Veränderung der DNA)

zur Folge haben.

Jede Zelle verfügt über ein großes Potential zur Reparatur von Veränderungen insbesondere an der DNA. Daher werden die meisten molekularen Veränderungen folgenlos bleiben. Es ist aber möglich, dass eine Reparatur unterbleibt oder fehlerhaft verläuft und dadurch eine mutierte Zelle entsteht, die sich teilt und ihre veränderte genetische Information weitergibt. Aus einer veränderten Zelle kann sich über eine noch nicht vollständig aufgeklärte Ereigniskette eine Gruppe (ein Klon) von Zellen ohne Wachstumskontrolle bilden, die sich zu einem Krebs oder einer Leukämie entwickeln können. Diese Wirkung wird auch als somatische Wirkung bezeichnet.

Wenn die molekulare Veränderung in einer Keimzelle erfolgt, kann der Defekt auf die Nachkommen vererbt werden. Man spricht dann von der genetischen Wirkung der Strahlung.

Für diese Wirkung durch molekulare Veränderungen wird im Strahlenschutz angenommen, dass keine Dosisschwelle besteht. Allerdings ist die Eintrittswahrscheinlichkeit im niedrigen Dosisbereich (bis zu einigen zehn Millisievert) so gering, dass ein Nachweis von gesundheitlichen Schäden mit den derzeit zur Verfügung stehenden Methoden nicht möglich ist. Eventuelle Folgen werden erst nach einer Latenzzeit von Jahren bis Jahrzehnten erkennbar. Eine Erhöhung der Strahlendosis erhöht die Wahrscheinlichkeit einer möglichen Erkrankung. Die Kurvendarstellung beginnt daher am Nullpunkt mit einem linearen Anstieg im untersten und mittleren Dosisbereich. In dieser Form wird die biologische Strahlenwirkung als stochastischer Effekt bezeichnet.

Verbleibende Dosis

Unter der verbleibenden Dosis oder der zu erwartenden verbleibenden Dosis wird diejenige Dosis verstanden, die eine Person als Folge eines radiologischen Ereignisses letztlich erhält oder erwartungsgemäß erhält, wenn man die Wirkung getroffener Schutzmaßnahmen berücksichtigt. Bis auf spezielle Fälle, bei denen eine Organdosis maßgeblich ist, bezieht sich die verbleibende Dosis auf die effektive Dosis in einem Jahr. In der Regel setzt sich die im betrachteten Zeitraum verbleibende Dosis zum Zeitpunkt über Maßnahmenentscheidungen aus einer bereits erhaltenen Dosis und der noch bis zum Ende des Zeitintervalls zu erwartenden Dosis zusammen. Bei der Ermittlung einer verbleibenden Dosis sind auch gängige Verhaltensweisen von betrachteten repräsentativen Personen einzubeziehen. Das gilt insbesondere für die zu erwartende verbleibende Dosis bei Entscheidungen über längerfristige Schutzmaßnahmen in einer späteren Phase eines Ereignisses, in der die radiologische Lage durch Messungen etc. genauer erfasst worden ist. Die Referenzwerte für Notfall- und für bestehende Expositionssituationen beziehen sich auf die verbleibende Dosis als Summe über alle Expositionspfade über Inhalation, externe Strahlung und Ingestion (Nahrungsaufnahme). Der Bezugszeitraum bei der Bestimmung der verbleibenden Dosis bei einer Notfall-Expositionssituation ist in der Regel das erste Jahr nach dem Ereignis.

Anhang A
Modellierung der Expositionspfade und dabei getroffene Annahmen und verwendete Parameter

Im Folgenden sind die Methoden und Annahmen zur Modellierung der Expositionspfade und Expositionsbedingungen aufgeführt, die bei der Bestimmung der jeweiligen abgeleiteten Richtwerte angewandt werden.

In Nummer 3 sind die Schritte zur Festlegung von abgeleiteten Richtwerten beschrieben. Zunächst muss für eine Schutzmaßnahme ein Richtwert der Dosis bezogen auf ein Zeitintervall ausgewählt werden. Dann ist eine Messgröße zur Erfassung der durch das Ereignis verursachten Kontamination auf Oberflächen oder der massen- oder volumenbezogenen Aktivitätskonzentration festzulegen, die für eine Exposition maßgeblich ist. Die dominierenden Exposi­tionspfade nach Eintritt der Kontaminationssituation sind dabei:

Externe Strahlung durch auf Oberflächen abgelagerte gammastrahlende Radionuklide.
Inhalation lungengängiger radioaktiver Partikel nach Resuspension von kontaminierten Oberflächen.
Unbeabsichtigte Ingestion von Radionukliden infolge Berührung kontaminierter Oberflächen.

Eine Exposition über reguläre Nahrungsaufnahme ist hierbei nicht einbezogen, da dieser Expositionspfad durch zusätzliche Maßnahmen begrenzt wird. Im Folgenden werden für diese maßgeblichen drei Expositionspfade die verwendeten Berechnungsmethoden und dabei herangezogene Parameterwerte beschrieben.

Eine Kontamination von Haut und Kleidung von Personen kann zu einer Exposition der strahlenempfindlichen Erneuerungsschicht der Haut führen. Dieser Expositionspfad ist bei der Kontaminationskontrolle von Personen und der ­Entscheidung über erforderliche Dekontaminationsmaßnahmen maßgeblich.

A-1 Externe Strahlung durch auf Oberflächen abgelagerte Radionuklide

Äußere Exposition durch Gammastrahler auf Oberflächen

Auf Boden und anderen größeren Oberflächen deponierte radioaktive Stoffe mit Gammastrahlung führen zu einer Ortsdosisleistung (ODL), die gewöhnlich in etwa 1 m Abstand gemessen wird, z. B. in der Einheit µSv h–1. Dosis­leistungskoeffizienten für Gammabodenstrahlung pro Einheitskontamination sind in dem Dokument „Dosisleistungskoeffizienten bei äußerer Strahlenexposition“ (BMJ 2001) für alle relevanten Radionuklide unter Einbeziehung eines Beitrages durch Tochternuklide und für sechs verschiedene Altersklassen aufgeführt. Damit lassen sich die ODL bei Kenntnis der Nuklidzusammensetzung einer Kontamination und deren zeitliche Entwicklung unmittelbar ermitteln. Die ODL verändert sich infolge von radioaktiven Zerfällen der zur Kontamination beitragenden Radionuklide. Bei Kenntnis der Radionuklidzusammensetzung einer Kontamination und Annahmen zu den Expositionsbedingungen, z. B. Daueraufenthalt im Freien in dem kontaminierten Gebiet während einer Bezugszeit, ist die Berechnung der Exposition von Personen durch externe Strahlung unmittelbar gegeben.

Äußere Exposition durch auf der Haut, in den Haaren und auf Kleidung abgelagerte Radionuklide

Bei der Kontaminationskontrolle von Personen zur Entscheidung, ob eine Dekontamination angezeigt ist, ist als Richtwert der Dosis 50 mSv Organ-Äquivalentdosis der Haut für Personen der allgemeinen Bevölkerung und für Einsatzpersonal festgelegt worden. Die abgeleiteten Richtwerte basieren auf der Hautdosis, gemittelt über jede beliebige Hautfläche von 1 cm2 unabhängig von der exponierten Fläche, die sich als Folge einer eingetretenen Kontamination ergeben kann.

Bei gegebener Hautkontamination durch ein Radionuklid in der Einheit Bq cm–2 ist die resultierende Hautdosis bestimmt durch die angenommene effektive Verweilzeit auf der Haut und die durch radioaktive Zerfälle verursachte Dosis der strahlungsempfindlichen Erneuerungsschicht der Haut.

Entsprechend der Dosisberechnung in (SSK 2015) bei Kontamination der Haut durch ein Freisetzungsereignis mit dominanter Alpha- oder Betastrahlung ist die Dosis durch folgende Parameter bestimmt:

Es wird eine effektive Verweilzeit des Radionuklids auf der Haut von drei Tagen angenommen.
Die in der Berechnungsgrundlage für die Ermittlung von Körperdosen bei äußerer Strahlenexposition, Veröffentlichungen der Strahlenschutzkommission Band 43 (SSK 2017), tabellierten nuklidspezifischen Hautdosisleistungsfaktoren. Darin sind die Beiträge der Alpha-, Beta- und Gammastrahlung zum Hautdosisleistungsfaktor in der ­Einheit μSv h–1 Bq–1 cm2 tabelliert.

In der Regel resultiert der dominante Beitrag zur Hautdosis aus beim Zerfall emittierter Betastrahlung. Durch penetrierende Gammastrahlung wird wenig Energie in der strahlenempfindlichen Hautschicht deponiert. Nur eine geringe Anzahl von Alphastrahlern mit hohen Zerfallsenergien > 6,5 MeV können diese Schicht erreichen.

Ein abgeleiteter Richtwert von 100 Bq cm–2 für Gesamt-Beta stellt einen oberen Wert für betastrahlende Radionuklide dar. Ein abgeleiteter Richtwert von 10 Bq cm–2 für Gesamt-Alpha stellt einen oberen Wert für alphastrahlende Radionuklide dar, der auch die seltenen sehr hochenergetischen Alpha-Strahler berücksichtigt. Ein abgeleiteter Richtwert von 100 Bq cm-2 für Gesamt-Gamma berücksichtigt, dass bei den meisten Zerfällen von Radionukliden Gamma­strahlung im Verbund mit Betastrahlung auftritt.

A-2 Inhalation lungengängiger radioaktiver Partikel nach Resuspension von kontaminierten Oberflächen

Eine Exposition von Personen durch diesen Expositionspfad erfolgt dadurch, dass auf Oberflächen abgelagerte ­Aktivität durch Luftströmung wie Windeinwirkung oder durch mechanische Einwirkung mit Induktion von Oberflächenvibrationen wieder luftgetragen werden. Dabei geht es um die Resuspension von lungengängigen Partikeln, die über Inhalation in tiefere Lungenschichten gelangen können, dadurch inkorporiert werden und zu einer effektiven Dosis beitragen.

In der Regel gilt, dass dieser Expositionspfad nur zu einem geringen Anteil zur Gesamtexposition nach Ablagerung beiträgt. Das ist darauf zurückzuführen, dass bei Unfallereignissen meist gammastrahlende Radionuklide ausschlaggebend sind und nach einer Ablagerung auf Oberflächen die Direktstrahlung einen wesentlich höheren Beitrag liefert.

Andere Verhältnisse können insbesondere dann vorliegen, wenn es zu einer Freisetzung von alpha- und/oder betastrahlenden Radionukliden kommt ohne bedeutsamen Anteil von Gammastrahlung.

In der SSK-Empfehlung „Abgeleitete Richtwerte für Maßnahmen zum Schutz von Personen bei Kontaminationen der Umwelt mit Alpha- und Betastrahlern“ (SSK 2015) ist dieser Expositionspfad ausführlich behandelt worden, einschließlich der Berechnungsverfahren für abgeleitete Richtwerte für die Schutzmaßnahme „Aufforderung zum Aufenthalt in Gebäuden“.

Die für eine Strahlenexposition durch Inhalation maßgebliche Einflussgröße ist die Rate, mit der auf Oberflächen deponierte Partikel durch diverse Resuspensionsprozesse wieder luftgetragen werden. Diese Resuspensionsrate bezieht sich für den Expositionspfad Inhalation auf lungengängige Partikel mit aerodynamischen Durchmessern < 10 µm und zeigt eine ausgeprägte Abnahme mit der Zeit.

Die Resuspensionsrate RR in s-1 ist bezogen auf eine vorliegende Flächenkontamination mit radioaktiven Stoffen wie folgt definiert:

Formel zur Bestimmung der Resuspensionsrate RR  . (Gl. 1)

Sie gibt an, welcher Anteil der auf einer gegebenen Fläche vorliegenden Kontamination pro Zeiteinheit in den luftgetragenen Zustand übergeht.

Die Höhe der Resuspensionsrate hängt insbesondere von der Stärke einer auf die kontaminierte Oberfläche einwirkenden Luftströmung (Windgeschwindigkeit), von lokalen Strömungseinwirkungen durch Fußgänger oder Fahrzeuge oder vom Einwirken mechanischer Kräfte, die zu Vibrationseffekten führen, ab. Für die unmittelbare Erfassung von Resuspensionsprozessen ist die Resuspensionsrate die geeignete Größe. Sie erfordert jedoch noch weitere Schritte, um für den Bereich der kontaminierten Flächen oder auch für außerhalb liegende Gebiete die luftgetragene Aktivitätskonzentration zu bestimmen.

Wegen seiner einfacheren (aber oft nicht adäquaten) Anwendbarkeit wird überwiegend ein sogenannter Resuspen­sionsfaktor RF mit der Einheit m–1 verwendet, der wie folgt definiert ist:

Formel zur Bestimmung des Resuspensionsfaktors RF  . (Gl. 2)

Der Resuspensionsfaktor wird oft aus Feldmessungen bestimmt, bei denen eine großräumige und mehr oder weniger homogen verteilte Flächenkontamination zur luftgetragenen Konzentration in Relation gesetzt wird.

Eine für Bedingungen nach einem akuten großräumigen Kontaminationsereignis gute Übersicht über einschlägige Messergebnisse zum Resuspensionsfaktor und dessen Zeitabhängigkeit leisten der NRPB-Bericht (Walsh 2002) sowie eine Aktualisierung dieses Berichtes (Wellings et al. 2019). Darin werden als Resümee für Wetterbedingungen, wie sie im nord-westlichen Teil von Europa vorherrschen, folgende Parameterwerte und Zeitabhängigkeit für den Resuspensionsfaktor RF (in m–1) empfohlen:

Formel zur Berechnung des Resuspensionsfaktors zum Zeitpunkt t  . (Gl. 3)

Dabei ist

t
die Zeit nach der Deposition in der Einheit Tage [d]
TB
Bezugszeit in der Dimension von t (TB = 1 d) 2
RF (0)
der vorgeschlagene Wert des Resuspensionsfaktors am ersten Tag (= 1,2 10–6 m–1)
RF(T)
der vorgeschlagene Wert des Resuspensionsfaktors als langfristiger Wert (= 10–9 m–1) (Dieser Anteil des Resuspensionsfaktors wird erst nach ca. T = 2,5 Jahre quantitativ relevant).

In die Bestimmung der Inhalationsdosis einer repräsentativen Person gehen folgende Größen ein:

FK = Flächenkontamination des Bodens (Bq m–2)
RF (t) = zeitabhängiger Resuspensionsfaktor (m–1)
AR = Atemrate der repräsentativen Person (m3 s–1)
DK = Inhalationsdosiskoeffizient der effektiven Dosis der repräsentativen Person
Das Zeitintegral über die Aufenthaltsdauer T1 bis T2, wobei die Zeitabhängigkeit des Resuspensionsfaktors und der Flächenkontamination infolge des radioaktiven Zerfalls beteiligter Radionuklide eingeht.

Die Zeitabhängigkeit der Resuspension hat wegen der Abhängigkeit mit 1/t erheblichen Einfluss auf die Inhalationsdosis einer Person, die sich in kontaminierten Bereichen aufhält. Betrachtet man beispielsweise den Zeitraum der ersten sieben Tage nach Eintritt der Kontamination, so beträgt der mittlere Resuspensionsfaktor noch 4,5 10–7 m–1 im Vergleich zu RF = 1,2 10–6 m–1 für den ersten Tag. Bei der Bezugszeit des ersten Jahres nach der eingetretenen Kontamination beträgt der über diesen Zeitraum gemittelte Resuspensionsfaktor nur noch RF = 2 10–8 m–1.

Dieselbe Beziehung zur Zeitabhängigkeit der Resuspension nach Eintritt eines großräumigen Kontaminationsereignisses wird auch in der IAEA-Publikation „Operational Intervention Levels for Reactor Emergencies“ (IAEA 2017) verwendet. Nur wird dort als Resuspensionsfaktor des ersten Tages der Wert RF = 1,0 10–5 m–1 verwendet, der gemäß der in SSK-Empfehlung „Abgeleitete Richtwerte für Maßnahmen zum Schutz von Personen bei Kontaminationen der Umwelt mit Alpha- und Betastrahlern“ (SSK 2015) diskutierten Datenbasis als zu konservativ angesehen wird.

Die Berechnungsverfahren für die Inhalationsdosis einer repräsentativen Person während einer Bezugszeit Δt = T2 – T1 infolge resuspendierter Radionuklide sind detailliert in (SSK 2015) dargestellt. Die Berechnung der Aktivitätsaufnahme durch Inhalation nach Resuspension kann dabei relativ aufwändig sein, da bei der Integration über das betrachtete Zeitinterval sowohl die Zerfallskonstanten beteiligter Radionuklide als auch die Zeitabhängigkeit der Windresuspension eingehen. Auf die Wiedergabe der verwendeten Formeln und Berechnungsverfahren wird hier verzichtet.

Es sei aber erwähnt, dass unter Bedingungen, wo der Expositionspfad Inhalation nach Resuspension den dominierenden Dosisbeitrag liefert, die repräsentative Person ein Erwachsener ist, da dabei das Produkt aus Atemrate und radionuklidabhängigem Dosiskoeffizient für Inhalation zu den höchsten Werten der effektiven Dosis führt.

Es zeigt sich, dass die Dosisbeiträge für den Expositionspfad „Inhalation nach Resuspension“ für Beta-/Gamma­strahler vergleichsweise niedrig sind. Ganz überwiegend dominiert die Exposition über externe Strahlung von kontaminierten Oberflächen. Bei längeren Bezugszeiten als sieben Tage für Schutzmaßnahmen nimmt ein Beitrag durch Resuspension zudem sehr schnell weiter ab wegen der 1/t-Abhängigkeit von Resuspensionsprozessen bei Windeinwirkung. Bei Alphastrahlern entfällt ein Expositionsbeitrag durch externe Strahlung. Dagegen ist die Inhalationsdosis infolge Resuspension in Relation zu Beta-/Gammastrahlern signifikant höher wegen der hohen Dosiskoeffizienten bei Aktivitätsaufnahme durch Inhalation.

A-3 Unbeabsichtigte Ingestion von Radionukliden infolge Berührung kontaminierter Oberflächen

Die Modellierung dieses Expositionspfades quantifiziert den Transfer radioaktiver Stoffe von kontaminierten Oberflächen über deren Berührung mit den Händen in den Mund und dadurch weiter in den Verdauungstrakt. Bestimmende Einflussgrößen der Modellierung einer unbeabsichtigten Ingestion infolge des Berührens kontaminierter Oberflächen während eines Bezugszeitraumes sind:

Die zeitliche Entwicklung der durch Berührung und Handhabung kontaminierter Oberflächen auf Handoberflächen übertragbaren Aktivität. Neben einem radioaktiven Zerfall können dabei auch zeitabhängige Prozesse beitragen, die die Haftung der Kontamination an Oberflächen beeinflussen oder bei kontaminiertem Boden zu einem Übergang in tiefere Bodenschichten führen.
Die Kontaktrate mit kontaminierten Flächen, z. B. in der Einheit cm2 h–1
Anteil der Aktivität auf der berührten Fläche, der auf die Hand übergeht
Anteil der auf die Hand gelangten Aktivität, der in den Mund kommt
Die Expositionsdauer dieses Expositionspfades während des Bezugszeitraumes, z. B. ein Jahr.

Auf die Behandlung dieses Expositionspfades und dabei getroffene Annahmen zu Parametern wird hier Bezug genommen:

In dem bereits zitierten Dokument „Operational Intervention Levels for Reactor Emergencies“, (IAEA 2017) werden für das Kleinkind und den Erwachsenen als repräsentative Personen die Transferraten von kontaminierten Oberflächen mit folgenden Werten angesetzt:

7,2 10–10 m2 s–1 für das Kleinkind
3,6 10–10 m2 s–1 für den Erwachsenen.

Diese Transferraten von einer Flächenkontamination zur Aufnahme über Ingestion fassen mehrere der oben aufgeführten Einzelschritte zusammen. Diese Werte gelten für den ersten Tag einer durch Deposition entstandenen Kontamination und geben an, von welcher Flächengröße pro Zeiteinheit die gesamte Kontamination de facto inkorporiert wird. Für die zeitliche Entwicklung dieser Transferrate durch Prozesse, die eine Ablösbarkeit durch Berührung kontaminierter Flächen reduzieren, wird analog zu den bei Resuspension wirksamen Mechanismen eine Zeitabhängigkeit von 1/t angenommen.

Die Modellierung läuft insgesamt darauf hinaus, dass ohne Berücksichtigung von radioaktivem Zerfall im Zeitraum der ersten sieben Tage integral die gesamte Kontamination von 1,8 10–4 m2 = 1,8 cm2 von einem Kleinkind über unbeabsichtigte Ingestion aufgenommen wird und im ersten Jahr integral von 4,3 10–4 m2 = 4,3 cm2. Für den Erwachsenen ergeben sich die halben Werte.

In dem Bericht „Radiologische Bewertung einer Kontamination: Entscheidungshilfe zur Festlegung von flächenbezogenen Freigabewerten“ (Deckert et al. 2000) wird ebenfalls ein Hand-zu-Mund-Transfer der oberflächenanhaftenden Aktivität bei der Handhabung kontaminierter Gegenstände analysiert, der zu einer unbeabsichtigten Ingestionsdosis führt.

Die bei der Modellierung maßgeblichen Parameter haben folgende Werte:

Kontaktrate mit kontaminierter Fläche 1,25 cm2 h–1
Transferfaktor von der kontamierten Fläche auf die Hand: 10 %
Transferfaktor von der entstandenen Kontamination der Hand zum Mund 10 %
Gesamttransfer kontaminierte Oberfläche Hand Mund: 0,01
Handhabung von kontaminierten Gegenständen: 1 800 h a–1.

Diese Modellierung und Parameterfestlegung des Expositionspfades „Unbeabsichtigte Ingestion“ läuft darauf hinaus, dass eine in diesem Fall erwachsene Person pro Jahr über diesen Pfad die gesamte Kontamination auf 23 cm2 von kontaminierten Gegenständen aufnimmt. Diese Aktivitätsaufnahme ist um das Verhältnis 23 cm2/4,3 cm2 = 5,4 höher als gemäß dem IAEA-Bericht (IAEA 2017) für das Kleinkind als Aufnahme von kontaminierten Boden pro Jahr (jeweils ohne Berücksichtigung eines radioaktiven Zerfalls) angesetzt wird. Das erscheint durchaus plausibel, da es um die Handhabung von kontaminierten Gegenständen geht und nicht um Bodenkontamination.

A-4 Ingestion von Radionukliden über die Nahrungsaufnahme

Die Modellierung dieses Expositionspfades quantifiziert die Aufnahme von radioaktiven Stoffen in den menschlichen Körper über die Nahrungsaufnahme. Die Modellierung ist von (IAEA 2017) für Freisetzungen bei Kernkraftwerks­unfällen übernommen. Diese Modellierung wurde ausschließlich zur Festlegung des abgeleiteten Richtwerts für die Maßnahme „Landwirtschaftliches Maßnahmenpaket“ bei Verwendung der Messgröße ODL verwendet. Zusätzlich sind ergänzende JRODOS-Rechnungen durch das BfS durchgeführt worden.

Für die Festlegung der abgeleiteten Richtwerte für die Maßnahme „Höchstwerte der Aktivitätskonzentration in ­Lebens- und Futtermitteln“ wurde die Modellierung der IAEA nicht angewandt, da diese Höchstwerte direkt aus der Verordnung (Euratom) 2016/52 übernommen wurden. Die Grundlage für die Festlegung der in der Verordnung ­(Euratom) 2016/52 enthaltenen Höchstwerte ist in der Veröffentlichung 105 der Kommission zum Strahlenschutz (EC 1998) (nach einem Unfall anzuwendende EU-Kriterien für Einschränkungen bei Lebensmitteln) beschrieben. Diese Werte basieren im Besonderen auf einem Referenzwert von 1 mSv pro Jahr für die individuelle effektive Dosis durch Ingestion sowie auf der Annahme, dass 10 % der jährlich konsumierten Nahrung dem Höchstwert entsprechend kontaminiert sind.

Modellierung der IAEA (IAEA 2017):

Im Folgenden sind die wesentlichen Annahmen der Modellierung der IAEA aufgeführt:

Für die Abschätzung der Aufnahme von radioaktiven Stoffen in den menschlichen Körper über die Nahrungsaufnahme werden stellvertretend die beiden Lebensmittel Kuhmilch und Blattgemüse berücksichtigt.
Die Ablagerung von radioaktiven Stoffen aus der Atmosphäre auf Pflanzen wird über einen Interzeptions-Faktor bestimmt, der das Verhältnis der Aktivitätskonzentration auf der Pflanze (in Bq kq–1) und der Aktivitätskonzentration auf der Bodenoberfläche (in Bq m–2) beschreibt. Für Weidegras wird ein Faktor von 3 m2 kg–1 angenommen, für Blattgemüse von 0,3 m2 kg–1.
Die Abnahme der Aktivität von deponierten Radionukliden auf Pflanzen (durch natürliche Prozesse wie Niederschlag, Wind) wird durch die Annahme einer exponentiellen Abnahme der Aktivität mit einer Halbwertszeit von 14 Tagen berücksichtigt. Zusätzlich wird dabei auch die Abnahme durch den radioaktiven Zerfall mitberücksichtigt.
Der Transfer von Futtermittel (Weidegras) in Kuhmilch wird durch tabellierte, nuklid-spezifische Transferfaktoren beschrieben.
Für Milchkühe wird eine Futtermittel-Aufnahme von 16 kg d–1 (Trockenmasse) angenommen. Dabei wird angenommen, dass 70 % der Futtermittel kontaminiert sind.
Die Reduktion aufgrund von Verarbeitung und Lagerung der Lebensmittel vor dem Verzehr wird durch die Berücksichtigung des radioaktiven Zerfalls während einer angenommenen Lagerzeit von einem Tag modelliert. Eine mögliche Reduktion der Nahrungsmittel-Kontamination durch die Verarbeitung und Zubereitung der Nahrungsmittel (z. B. durch Waschen oder Kochen) wird nicht berücksichtigt.
Der angenommene Verzehr von Kuhmilch beträgt 120 l a–1 für Kleinkinder und 105 l a–1 für Erwachsene. Dabei wird angenommen, dass 50 % der verzehrten Kuhmilch kontaminiert sind.
Der angenommene Verzehr von Blattgemüse beträgt 20 kg a–1 für Kleinkinder und 60 kg a–1 für Erwachsene. Dabei wird angenommen, dass 50 % des verzehrten Blattgemüses kontaminiert sind.
Der Richtwert der Dosis für die Maßnahme „Landwirtschaftliches Maßnahmenpaket“ beträgt 10 mSv effektive Dosis in einem Jahr durch Ingestion von kontaminierten Lebensmitteln (siehe auch IAEA 2015).

Ergänzende JRODOS-Rechnungen:

In den ergänzenden Rechnungen mit dem Entscheidungshilfesystem JRODOS wurde der Zusammenhang zwischen der Ortsdosisleistung und den Aktivitätskonzentrationen für verschiedene Radionuklide in unterschiedlichen Lebensmitteln untersucht. Dabei wurden zusätzlich verschiedene Jahreszeiten, Ablagerungsbedingungen (trockene und nasse Ablagerung von radioaktiven Stoffen aus der Atmosphäre auf Boden und Pflanzen) und Nuklid-Zusammen­setzung der Freisetzungen berücksichtigt.

Annahmen für die JRODOS-Rechnungen:

Wetter:
Szenario Trockene Ablagerung Nasse Ablagerung
Windgeschwindigkeit 3,0 m s–1 3,0 m s–1
Niederschlagsintensität 0 mm h–1 1 mm h–1
Diffusionskategorie D D
Jahreszeit:
Szenario Winter Sommer
Freisetzungsbeginn 15.1. 15.7.
Nuklid-Zusammensetzung der Freisetzungen:
Name Art Freisetzung Iod-131 (Bq) Freisetzung Cäsium-137 (Bq)
FKA Unbedecktes Dampferzeuger-Heizrohrleck 3,1 · 1017 2,9 · 1016
FKF Ungefilterte Druckentlastung über Dach 2,3 · 1016 2,8 · 1014
FKI Gefilterte Druckentlastung über den Kamin 2,8 · 1015 2,8 · 1011
Betrachtete Radionuklide in Lebensmitteln: Summe der Iodisotope (I-131, I-132, I-133, I-134, I-135) bzw. Summe der Cäsiumisotope (Cs-137, Cs-134)
Betrachtete Lebensmittel: Blattgemüse bzw. Kuhmilch (Roh-Produkte)
Für die Aktivitätskonzentrationen in Lebensmitteln wurde jeweils das Maximum bestimmt, das für verschiedene Radionuklide in unterschiedlichen Lebensmitteln zu unterschiedlichen Zeitpunkten nach der Ablagerung auftreten kann.
Zur Berechnung der Aktivitätskonzentrationen in Lebensmitteln wurde das radioökologische Modell FDMT in ­JRODOS verwendet, die verwendeten Modellparameter sind für Deutschland repräsentativ.
Die Ortsdosisleistung (ODL) wurde direkt nach dem Durchzug der radioaktiven Wolke bestimmt, d. h. in die ODL geht nur die externe Strahlung von Radionukliden ein, die während des Durchzugs der Wolke auf den Boden abgelagert wurden.

Ergebnisse der JRODOS-Rechnungen:

Im Folgenden sind für die unterschiedlichen betrachteten Szenarien jeweils die Ortsdosisleistungen (direkt nach Durchzug der radioaktiven Wolke) angegeben, bei der die EURATOM-Höchstwerte für Radioaktivität in Lebensmitteln überschritten werden können (EURATOM 2016/52).

Tabelle A-1:

Ortsdosisleistung nach Durchzug der radioaktiven Wolke, bei der die EURATOM-Höchstwerte für Radioaktivität in Lebensmitteln überschritten werden können; für eine Freisetzung im Sommer

  Ortsdosisleistung (µSv h–1)
Jahreszeit Sommer
Nuklid-Zusammensetzung FKA FKA FKF FKF FKI FKI
Ablagerung trocken nass trocken nass trocken nass
Cäsium-Isotope in Blattgemüse 0,01 0,19 0,34  2,0   26     89   
Jod-Isotope in Blattgemüse 0,01 0,14 0,00  0,02   0,01   0,02
Cäsium-Isotope in Kuhmilch 0,12 1,8  2,4  14    187    610   
Jod-Isotope in Kuhmilch 0,01 0,24 0,01  0,03   0,01   0,03

Tabelle A-2:

Ortsdosisleistung nach Durchzug der radioaktiven Wolke, bei der die EURATOM-Höchstwerte für Radioaktivität in Lebensmitteln überschritten werden können; für eine Freisetzung im Winter

  Ortsdosisleistung (µSv/h)
Jahreszeit Winter
Nuklid-Zusammensetzung FKA FKA FKF FKF FKI FKI
Ablagerung trocken nass trocken nass trocken nass
Cäsium-Isotope in Blattgemüse 0,01  0,19  0,22   1,9    15       87   
Jod-Isotope in Blattgemüse 0,01  0,14  0,01   0,02    0,01     0,02
Cäsium-Isotope in Kuhmilch 2,5  47    52    360    3790    14970   
Jod-Isotope in Kuhmilch 0,5  22,7   0,5   10,9     0,31     6,3 

Man erkennt in den beiden Tabellen, dass insbesondere bei trockener Deposition im Sommer die Überschreitung der EURATOM-Höchstwerte in manchen Lebensmitteln auch schon bei einer ODL von unter 1 µSv h–1 auftreten kann. Eine generelle Überschreitung der EURATOM-Höchstwerte für alle Radionuklid-Lebensmittel-Kombinationen ist aber auch unter diesen Bedingungen nicht zu erwarten.

Die ODL, bei der die EURATOM-Höchstwerte für Jodisotope überschritten werden können, ist relativ unabhängig von der betrachteten Nuklid-Zusammensetzung oder der Jahreszeit. Bei Cäsium-Isotopen hingegen werden die ­EURATOM-Höchstwerte insbesondere bei den Nuklid-Zusammensetzungen FKF und FKI erst bei deutlich höherer ODL erreicht (und zeigen zudem noch eine ausgeprägtere Abhängigkeit von der Jahreszeit). Dies liegt daran, dass bei der Radionuklid-Zusammensetzung FKF um einen Faktor 100 und bei FKI um einen Faktor 10 000 mehr Jodisotope als Cäsium-Isotope emittiert und in nahezu demselben Verhältnis auch auf dem Boden abgelagert werden, so dass die ODL von den Jodisotopen in hohem Maße dominiert wird. Dadurch ist eine wesentlich höhere Gesamt-Ablagerung erforderlich, damit die im Vergleich zu den Jodisotopen (und damit auch im Vergleich zur ODL) relativ geringen ­Mengen an abgelagerten Cäsiumisotopen ausreichende Aktivitäten erreichen, um die EURATOM-Höchstwerte zu übersteigen. Die stärkere Jahreszeiten-Abhängigkeit bei Cäsium-Isotopen in Kuhmilch erklärt sich u. a. dadurch, dass bei dem Sommer-Szenario das Maximum der Cäsium-Konzentration in Nahrungsmitteln bereits innerhalb der ersten Tage nach der Ablagerung auftritt, während dies in dem Winter-Szenario erst nach einigen Monaten geschieht, wenn von der Winter-Fütterung mit unkontaminiertem Futter auf Sommer-Fütterung mit kontaminiertem Frischfutter umgestellt wird.

A-5 Bestimmung des abgeleiteten Richtwertes der ODL für die Maßnahme „Evakuierung“ *

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A-6 Literatur

BMJ 2001 Bundesministerium der Justiz (Hrsg.). Dosiskoeffizienten bei äußerer und innerer Strahlenexposition. Bekanntmachung im Bundesanzeiger am 28. August 2001, Beilage Nr. 160 a und b
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Deckert et al. 2000 Deckert A, Thierfeldt S, Kugeler E. Radiologische Bewertung einer Kontamination: Entscheidungshilfe zur Festlegung von flächenbezogenen Freigabewerten und Herleitung von Freigabewerten für flüssige Reststoffe und Abschätzung der durch Freigabe von Reststoffen und Abfällen verursachten Kollektivdosis. Schriftenreihe Reaktorsicherheit und Strahlenschutz, BMU-2000-559, Bonn, 2000
IAEA 2017 International Atomic Energy Agency (IAEA). Operational Intervention Levels for Reactor Emergencies and Methodology for their Derivation. EPR-NPP-OILs, 2017, ISSN 2518–685X
SSK 2015 Strahlenschutzkommission (SSK). Abgeleitete Richtwerte für Maßnahmen zum Schutz von Personen bei Kontaminationen der Umwelt mit Alpha- und Betastrahlern. Empfehlung der Strahlenschutzkommission mit wissenschaftlicher Begründung, verabschiedet in der 279. Sitzung der Strahlenschutzkommission am 3./4. Dezember 2015. urn:nbn:de:101:1-201605303033. Bekanntmachung im Bundesanzeiger (BAnz AT 01.07.2016 B3)
SSK 2017 Strahlenschutzkommission (SSK). Berechnungsgrundlage für die Ermittlung von Körper-Äquivalentdosen bei äußerer Strahlenexposition. Veröffentlichungen der Strahlenschutzkommission, Band 43, 3., überarbeitete Auflage und erweiterte Auflage, Schnelle Verlag, Berlin, 2017, ISBN 978-3-943422-43-6
Walsh 2002 Walsh C. Calculation of Resuspension Doses for Emergency Response. NRPB-W1, NRPB, Chilton, Didcot, 2002, ISBN 0859514595
Wellings et al. 2019 Wellings J, Bedwell P, Haywood S M, Charnock T W: Estimation of radiation doses from inhalation of resuspended materials in emergency situations. PHE-CRCE-047, Public Health England, Chilton, Didcot, 2019
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Als Verdachtsfläche wird hier ein Gebiet bezeichnet, in dem aufgrund einer möglichen Kontamination mit radioaktiven Stoffen Notfallschutzmaßnahmen notwendig sein können. Die Grenzen des Gebietes sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht durch Messungen abgesteckt.
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Die Bezugszeit TB ist in der Originalveröffentlichung nicht aufgeführt. Sie wurde hier eingeführt, um formal richtige Dimensionsangaben zu ermöglichen.
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